Cora auf Reisen

...

Liebe Cora ….

Das Meer rollt an den Strand, ach, es rollt nicht nur, es donnert gegen die Ufermauer, dass Schaumspritzer an die Fensterscheiben fliegen, es schäumt und wühlt mit jeder Woge die schwarzen Lavakiesel auf, dass es nur so prasselt. Ein stetiger Rhythmus von brechenden Wellen und prasselnden Steinen erfüllt den Alltag, bei Ebbe etwas gedämpfter, bei Flut enervierend laut. Selbst wenn Cora sich nachmittags ein wenig hinlegt, bei geschlossenen Fensterläden und mit halb über den Kopf gezogener Decke, spürt sie das Bett, den Fußboden, das ganze Haus unter dem Ansturm des Meeres wanken. Das ist natürlich Einbildung. Das Haus ist fest gebaut und Hochwasser ist nicht zu befürchten.

Liebe Cora, es tut mir ganz doll leid, aber mir ist etwas dazwischen gekommen, ich kann Dich nicht wie geplant bei mir unterbringen …

Bei Ebbe sieht sie manchmal andere Urlauber mit hochgekrempelten Hosen zwischen den Lavakieseln umherwandern. Sie tragen Gummisandalen und bücken sich alle Augenblicke, um etwas aufzuheben, es einander auf der flachen Hand zu zeigen und wieder wegzuwerfen.

Die Küste zeigt sich nackt, präsentiert ihren Reichtum an Muscheln, Tang, schön geformten Kieseln, manchmal Kleiderfetzen und Knochenstücken. Wenige Stunden später ist das Meer wieder zurück und stürmt gegen die Ufermauer wie gehabt. Cora setzt sich im Bett auf, kratzt die empfindliche Haut an den Schienbeinen (rot von der ungewohnten Sonne, denn zu Hause ist es Januar), nimmt ihren Krimi von der anderen, leeren Bettseite und sucht die Stelle, wo sie stehen geblieben ist. Der Krimi spielt teils in Schweden, teils auf den Kanaren, deshalb hat sie ihn mitgenommen. Spanisches Ambiente. Wenn sie das Buch durch hat, kann sie es einfach dalassen, das ist immerhin ein Vorteil.
Der Brief steckt zwischen den letzten Seiten des Buchs. Cora hält ihn in einen Lichtstreif, der sich am Fensterladen vorbeigezwängt hat. Liebe Cora, es tut mir ganz doll leid, aber mir ist etwas dazwischen gekommen, ich kann dich nicht wie geplant bei mir unterbringen. Ich muss selbst nach Madrid fliegen und weiß nicht, wann ich zurückkomme. Die Sache zwischen Albert und mir ist geplatzt. Tschüss, Albert, weg mit Schaden! Er hat das Ferienhaus abgeschlossen und ist irgendwohin verschwunden. Ich wollte dir natürlich nicht absagen, weil ich weiß, dass Du den Flug seit Monaten gebucht und bezahlt hast, aber nun musst Du ohne mich zurecht kommen. Am besten nimmst Du Dir am Flughafen ein Taxi und fährst direkt nach Ajola, das ist ein kleiner Ort nur eine Bucht weiter. Du kannst bei einem guten Freund von mir über seiner Taverne wohnen. Selbstverständlich brauchst Du dafür nichts zu bezahlen; ich hatte Dich ja eingeladen. Es ist eine richtige Ferienwohnung, aber wir haben sowieso Nebensaison, du brauchst Benito nur einen Zuschuss für Licht und Wasser zu geben, den Rest regle ich mit ihm.

Selbstverständlich. Hier kennt jeder jeden. Und so ist Cora nun in dieser winzigen Bucht gestrandet, eingesperrt zwischen zwei hohen Lavarücken; in diesem Nest Ajola, das aus – über den Daumen gepeilt – höchstens achtzig Häusern besteht.
Ich habe es mir so schön vorgestellt, Dir die Insel zu zeigen, Cora-Schatz, aber ich muss wirklich dringend weg und mit meinem Rechtsanwalt reden wegen Albert. Ajola wird Dir gefallen. Baden geht wohl nicht, die See ist im Januar zu rauh, aber ausspannen kann man hier ganz herrlich! Es geht auch einmal täglich ein Bus über den Berg nach San Pedro, da gibt es ein wenig Nachtleben und so, aber erwarte nichts Großartiges. Die Einheimischen sind sehr nett und Benito wird sich um Dich kümmern. Es sind auch immer ein paar Deutsche in Ajola, vielleicht findest Du jemanden, mit dem Du wandern gehen kannst. Ich rufe Dich an! Küsschen! Deine Brigitte.

Benito hat sich als zuvorkommender kleiner Mann erwiesen. Als Cora ankam, stand er auf der dem Meer zugewandten Terrasse seiner Taverne und war, von oben bis unten mit Zementstaub bedeckt, damit beschäftigt, eine Mauer auszubessern. Die Zeit drängte, weil die Flut im Kommen war. Er strahlte, brachte ein paar Floskeln in Englisch hervor und verwies Cora in die kleine Wohnung im Obergeschoss.

Zwei Zimmer, Bad, Küchenzeile. Balkon hinaus auf die Hafenmauer und das ewige Gelärme des Meeres. Handtücher und Bettwäsche lagen im Schrank. Die Wohnung war für ein Paar gedacht. Cora breitete sich auf dem Doppelbett aus, suchte ihr Handy hervor und versuchte, Brigitte anzurufen.
Es überraschte sie kaum, dass es hier kein Netz gab. Seufzend pellte sie sich aus Jeans und Strumpfhose. Sie war am Tag zuvor in der Frühe bei minus drei Grad gestartet, und hier hatte es mindestens zwanzig Grad plus.

Später am Nachmittag machte sie noch einen Versuch. Sie verließ das Haus und stieg durch einige enge Gassen bergwärts. Im oberen Ortsteil gab es Gärten, terrassenförmig angelegt und mit Bananenstauden bepflanzt. Auf einem Stück Brachland schob ein junger Mann in Trainingsjacke und Basecap einen dröhnenden Motorpflug herum. Er trug Ohrenschützer und hatte ein lustvolles Grinsen aufgesetzt. Cora musste noch höher steigen, um etwas Ruhe zu haben. An den Berghängen standen wohlhabend aussehende Villen weit verstreut, dazwischen Gärten und Palmenhaine. Weiß gestrichene Terrassen, dem Meer zugewandt; Geranientöpfe in überquellendem Rot. Zum ersten Mal fiel Cora auf, dass Ajola zweigeteilt war. Der obere Ortsteil mit den Villen war durch eine breite, schwarz verkohlte Schneise vom unteren Teil getrennt, als wäre ein Brand quer durch das Tal gerast. Rußige Palmenstümpfe standen umher, mit weggesengten Kronen. Zwischen dieser Schneise und dem Strand gab es nur noch drei Dutzend aneinander gedrängte Häuser – eines davon Benitos Taverne, doch so von oben gesehen konnte sie nicht ausmachen, welches. Ziemlich weit links war so etwas wie ein Café zu erkennen. Auf einem kleinen, zwischen Häusern eingezwängten Platz standen drei runde Tischchen mit Stühlen darum.

Von ihrem erhöhten Stand aus bekam Cora endlich eine Verbindung. »Hey, Brigitte!«, schrie sie ins Handy. »Ich bin hier in Ajola. Hab die Wohnung gefunden. Benito ist okay. Aber was ist denn überhaupt los bei dir?«
»Albert hat mich rausgeschmissen!«, klang eine dünne Stimme zurück. »Ich konnte dort nicht mehr bleiben. Das Haus gehört ihm, er hat einfach abgeschlossen und ist weg. Es tut mir so leid, Cora, ich musste nach Madrid zurück, kommst du denn klar?«
»Natürlich komme ich klar! Aber ich wollte dich doch besuchen, das ist schließlich der Grund, warum ich hergekommen bin!«

»Ja, ich weiß! Es tut mir so leid. Mach dir einfach eine schöne Woche. Es kostet dich nichts, die Wohnung bei Benito steht ohnehin leer, gib ihm einfach ein Trinkgeld, und ja, es wäre gut, wenn du bei ihm isst, verstehst du, er hat ja die Kneipe dort. Sonst brauchst du nichts zu bezahlen, ich hab das mit Benito besprochen!«
»Aber was soll ich denn machen? Hier gibt es ja nichts. Nicht mal baden kann man!«
»Geh wandern, oder fahr mit dem Bus nach San Pedro, da gibt es Läden. Dir wird schon was einfallen. Es ist nicht wie Teneriffa, aber die Landschaft ist doch schön, oder? Mach es dir gemütlich und trink Palmwein!«
Die Verbindung wurde immer schlechter. »Ich kann dich kaum noch verstehen!«, schrie Cora. »Ich rufe dich wieder an!«


*


Wenn Cora an das Gespräch zurückdenkt, bringt es sie ein wenig auf die Palme, dass Brigitte ihr San Pedro wegen der »Läden« empfohlen hat. Cora muss nichts einkaufen. Im Gegenteil, das Schöne an Ajola ist, dass sie hier nichts braucht.
Rein gar nichts, weil hier nie etwas passiert.

Die Palmen sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Einheimischen steigen mit Leitern hinauf, schneiden im Bereich der obersten Palmwedel den Stamm an und sammeln den auslaufenden Saft in einem angehängten Eimerchen. Der eingekochte »Palmenhonig«, der herb schmeckt wie Rübensaft, wird hier so umfassend verwendet wie Salz. Man kippt ihn ins Salatdressing, in Fleischmarinaden und in Kuchenteig, man schmiert ihn aufs Frühstücksbrötchen oder gießt Schnaps damit auf. In Benitos Taverne steht immer ein Krug Branntwein mit Palmenhonig auf der Theke. Die Gäste sind zum Großteil alte Männer, die auf der Terrasse sitzen und sich stundenlang unterhalten, in der entspannten, monologisierenden Art der Spanier. Manchmal kommen auch dicke Frauen in Kittelschürzen und fangen an, auf die Männer einzupredigen, die im gleichen Tonfall antworten. Es gibt keine lauten Heiterkeitsausbrüche, aber auch nie Streit. Das Essen bei Benito ist ausgezeichnet; es gibt dicke Kressesuppe, Brot mit dem würzigen mojo in rot und grün, Fisch und Meeresfrüchte und nach jeder Mahlzeit Palmwein, dick und süß. Es dauert keine drei Tage, da hat Cora die Nase voll.

Sie fängt an, nach anderen Urlaubern Ausschau zu halten. Jemand, mit dem sie reden kann. Sie wandert die Straße hinauf, findet eine Bushaltestelle und kann den Fahrplan nicht lesen – ein Gewirre von Zahlen und unbekannten Ortsnamen. Die schwarze Schneise fällt kaum auf, wenn man sie durchquert. Nur ein paar versengte Büsche. Aber von oben gesehen, sieht Ajola aus wie ein von einer rätselhaften Katastrophe heimgesuchter Ort. Die Bushaltestelle liegt so hoch, dass sie wieder das Café im unteren Ortsteil ausmachen kann. Drei Stühle sind besetzt.

In Nachdenken versunken, trödelt sie zurück, überquert die Brandnarbe und sucht in den engen Gassen nach dem Café, steigt Treppen hinauf und hinunter. Auf den flachen Dächern flattert Wäsche. Es muss ziemlich weit links sein, das ist ihr einziger Anhaltspunkt.

Da ist es; ein kleiner Platz mit drei Tischen, eine offene Türluke in ein dunkles Haus. Zwei der Tische sind besetzt. Cora setzt sich an den dritten und mustert die Gäste – eine einzelne junge Frau und ein älteres Paar. Alle drei lesen. Die Junge, in Funktionshosen und Wanderstiefeln, hat ein dickes Buch in Leinen mit verblasstem Goldschnitt. Der alte Mann liest einen Comic; auch dieser alt, von Marvel – Cora erkennt Spiderman auf dem Titel; und seine Frau ist in die letzten Seiten eines Taschenbuchkrimis vertieft. Und alle drei essen, wie Cora verwundert beobachtet: Die junge Frau hat geröstete Nüsse in einem tiefen Teller vor sich, die krimilesende Frau dippt Grissini in eine rote Soße, der Alte mit dem Comic lutscht an einer gestreiften Zuckerstange, die eher zu einem Kindergartenkind passen würde.

Niemand kommt, um Cora zu bedienen. Die drei Leute lesen stumm, die Sonne brennt, in dem kleinen Platz staut sich die heiße Luft. Die Stille ist merkwürdig. Obwohl der Strand keine hundert Meter entfernt sein kann, klingt das Rauschen der Wellen hier weit entfernt, eher wie ein leises, einschläferndes Wiegen.

»Gibt’s keinen Service hier?«, murmelt Cora verärgert. Sie tut es absichtlich – der Krimi, den die Ältere liest, hat einen deutschen Titel, sie könnte doch antworten – aber es kommt keine Reaktion. Ich bin unsichtbar, denkt sich Cora, oder was?
»Sie müssen lesen«, zischt die junge Frau in ihre Richtung.
»Wie bitte?«
»Sie müssen sich was zu lesen holen. Von drinnen. Dann werden Sie bedient. Das ist hier so üblich.« Krachend zerbeißt sie eine Nuss.

Cora bewegt sich zur Tür, um einen Blick hineinzuwerfen. Das Café hat weder eine Theke noch Bedienung, jedenfalls ist niemand zu sehen. Statt dessen bedecken Bücherregale die Wände bis zur Decke hinauf. »Kann ich mir einfach was nehmen?«, fragt Cora über die Schulter zurück.
Statt einer Antwort winkt die junge Frau nur in Richtung Tür, ohne den Blick von ihrem Buch zu nehmen. Reden scheint nicht erwünscht zu sein.

Cora betritt den Laden sehr zögerlich. So etwas – ja, was ist es eigentlich? Ein Lesecafé? Eine Leihbücherei? – jedenfalls hat sie so etwas hier nicht erwartet. Die Bücher sehen alle gebraucht aus, manche ziemlich zerfleddert. Im Regal stehen sie einigermaßen geordnet: zur Linken holländische Bücher („De Heksendochter“), daneben englischsprachige, Ken Follett im Original neben Charles Dickens; ein paar französische, ein Regalmeter spanische und daneben deutsche.
Cora ist zu verunsichert, um gezielt ein Buch zu wählen. Sie hält sich nicht einmal damit auf, die Titel auf den Buchrücken zu lesen – es ist ohnehin zu dunkel dazu; das einzige Licht kommt durch die offene Tür. Einfach irgendeines. Der gestrichelten, monochromen Umschlagzeichnung nach stammt es wahrscheinlich aus den Sechzigern.

Wieder draußen, schlägt ihr die Sonne grell ins Gesicht. Das alte Ehepaar ist weggegangen; auf dem Tischchen liegen der zugeklappte Krimi und der Comic. Die junge Frau liest noch immer und zerbeißt dabei Nüsse. Cora setzt sich wieder an ihren Tisch. Sie hat das Buch kaum aufgeschlagen, als ein Kellner erscheint. Er erscheint wirklich wie aus dem Nichts: Durch die dunkle Tür in das Bücherzimmer ist er nicht gekommen; er muss außen herum gegangen sein. Der Kellner ist jung, schlaksig und schlurft mit tieftraurigem Gesichtsausdruck heran. Ohne ein Wort zu sprechen, stellt er vor Cora ein Likörglas mit einer roten Flüssigkeit und einen gefüllten Teller hin und kehrt ihr sofort wieder den Rücken.

»Was soll das denn?« Cora schaut ihm verblüfft nach. Die junge Frau mit den Nüssen blickt amüsiert auf.
»Daran gewöhnt man sich. Hier können Sie nichts bestellen. Sie kriegen einfach irgendwas gebracht. Nehmen Sie ruhig, das passt schon.«
Cora schlägt das Buch auf: Es ist »Rebecca« von Daphne du Maurier. Ach, herrlich! Das hat sie schon immer mal lesen wollen. Sie greift nach dem Glas. Die rote Flüssigkeit erweist sich als angenehm herber Likör. Der Teller enthält Kirschpralinen. Vorsorglich rückt Cora mitsamt ihrem Tisch in den Schatten.
Und liest.


*


Wie soll man das nennen? Magie, oder Flow? Eins ist sicher: Noch nie hat Cora so viel und so schnell gelesen. Am achten Tag ihres Aufenthalts hat sie schon fünf dicke Bücher verschlungen. Sie hat sich einen Zeitplan angewöhnt: Vormittags hat das Café geschlossen; Cora frühstückt in ihrem Apartment auf der Terrasse und hört dem Donnern des Meeres zu, geht danach Brot und Wasser kaufen und macht einen Spaziergang; zweimal rafft sie sich zu einer längeren Wanderung auf, aber der Höhepunkt des Tages ist der Besuch im Lesecafé. Am frühen Nachmittag. Es ist immer ein Stuhl für sie frei. Das Publikum wechselt; manchmal steht noch ein vierter Tisch da, der (gleichfalls wohl durch Magie) noch in dem winzigen Hof Platz findet; manchmal sitzen bis zu sieben Leute da – irgendwie reicht es immer für alle, das ist geradezu biblisch. Und immer ist noch ein Stuhl frei für Cora. Sie nimmt jeden Tag ein neues Buch. Es kann noch so dick sein, bis zum Abend hat sie es durch. Am zweiten Tag liest sie »Der Schatten des Windes« von Zafon. Der traurig dreinblickende Kellner bringt ihr eine Halbliterflasche Rotwein und ein Holzbrettchen mit knusprigem Brot, Serranoschinken und karamelisierten Zwiebeln, auf Holzspieße gesteckt – köstlich. Am dritten Tag greift sich Cora, die bei der Buchwahl noch immer nicht richtig hinsieht, einen Roman von Jane Austen und bekommt dazu einen Teller Ingwerkekse und eine Kanne mit erlesenem Tee von orangeroter Tönung. Am vierten Tag sucht Cora ihr Buch endlich gezielt aus und tut prompt einen Fehlgriff – der Autor ist ein skandinavischer Krimischreiber, der Krimi ein wichtigtuerisches Gestammel, und zu essen gibt es eine Riesenschüssel Kartoffelchips. Cora lässt beides halb bewältigt stehen und nimmt sich vor, die Auswahl am nächsten Tag wieder dem bewährten Zufall zu überlassen.

Der Zufall schenkt ihr den »Mantel« von Gogol, und Cora bibbert beim Lesen auf ihrem Stuhl, schlürft heiße Rassolnik-Suppe vom Löffel und isst Kartoffelbrot dazu. Die Suppe wärmt so angenehm – sie friert tatsächlich, so ohne Mantel! Am Morgen darauf hat sie zum ersten Mal das Gefühl, vielleicht doch nicht ganz das Richtige zu tun. Während sie auf ihrem Balkon frühstückt, brüllt das Meer lauter als je zuvor, und ein paarmal kommen vereinzelte Gischtspritzer über das Geländer geflogen. Der Kaffee schmeckt unangenehm – irgendwie nach Salz.

An diesem Tag liest sie »Schöner Antonio«, einen Roman, der in Catania spielt. Es gibt dazu Sardinenröllchen mit einer Art Paste aus Weißbrotbröseln gefüllt, mit süßsaurer Soße übergossen, und dazu einen köstlichen Rotwein. Das Buch ist ausgesprochen erotisch, und der bewährte Zufall hat Cora diesmal in einer schattenlosen Ecke plaziert. Schwarzer Lavastaub bedeckt ihre Füße. Sie merkt kaum, wie mit dem Hereinbrechen des Abends eine feuchte Kühle über sie kriecht. Aber als sie das Buch endlich durch hat, ist ihr mulmig und schwankend zumute. Auf dem Balkon ihrer Wohnung stehen tiefe, salzige Meerwasserpfützen.

Noch während sie am nächsten Morgen frühstückt – mit schwerem Kopf, obwohl sie nur zwei Glas Rotwein getrunken hat – meldet ihr Handy eine SMS. Sie stammt von Brigitte. Manchmal hat sie doch Netzverbindung, wenn auch nur minutenlang. Brigitte fragt besorgt: Was ist los? Warum meldest Du Dich nicht? Bin gestern hergeflogen. Ferienhaus ist wieder offen. Du kannst jetzt kommen, bitte melde Dich.

Der berühmte Albert ist also zurück und hat das Haus reuig wieder aufgeschlossen. Und Cora könnte jetzt, wie geplant, zu ihrer Freundin. Aber eigentlich will sie nicht mehr. Sie hat ohnehin nur noch vier Tage Zeit, die will sie mit Lesen verbringen. Kurz entschlossen drückt sie die SMS weg. Wenn Brigitte nachfragt, kann sie sich mit dem fehlenden Netz herausreden.
An diesem Tage schenkt ihr der Zufall ein Buch von Lovecraft. Der Kellner serviert dazu ein wässriges französisches Bier – als ob das spanische Bier nicht um Längen besser wäre – und ein ungenießbares Etwas in Pastetenform. Es ist Zunge in Aspik, total übersalzen. Selbst das Brot dazu schmeckt irgendwie salzig.
So kann es nicht weitergehen, auch wenn der Lovecraft durchaus spannend ist: geheimnisvolle glibberige Urzeitwesen, Schlamm, Tentakel und hohle Stimmen aus dem Nichts. Am Abend steht Coras Balkon fast ganz unter Wasser. Sie geht zu Benito in die Taverne hinunter und versucht ihm die Situation zu erklären. Er lacht mit viel zu vielen Zähnen und stellt ein Glas Palmwein vor sie hin.

Am Morgen darauf zieht Cora aus. Es geht wirklich nicht mehr, im Wohnzimmer stehen Pfützen, selbst das Wasser aus der Leitung hat Salzgeschmack. Sie lässt Benito ein großzügiges Trinkgeld da und geht ein letztes Mal zum Lesecafé. Es ist noch geschlossen. Die Tische und Stühle stehen zusammengeklappt. Cora fällt ein, dass sie nicht ein einziges Mal fürs Lesen und Essen bezahlt hat. Sie faltet einen Fünfziger zusammen und schiebt ihn unter der Tür durch.
Ihren Rollenkoffer hinter sich herziehend, überschreitet sie die verbrannte Schneise und steigt zur Bushaltestelle hinauf. Der Bus kommt nach fünf Minuten. Wieder fällt ihr ein, dass sie nicht ein einziges Mal versucht hat, einfach auf den Bus zu warten. Sie hat das Gewirr auf dem Fahrplan zur Kenntnis genommen und den Rücken gekehrt.

Jetzt sitzt sie mit ihrem Trolley auf einem Fensterplatz und verlässt das enge Tal, fährt vorbei an Bananenplantagen und Palmenhainen auf die Stadt San Pedro zu. Dort gibt es Läden, hat Brigitte behauptet, und Kneipen und Nachtleben. Als erstes wird sie sich ein paar Souvenirs kaufen, nimmt sich Cora vor. Palmenhonig in Flaschen. Lavasteine. Und Bücher, denkt sie, und sieht den Buchladen im Flughafen vor sich. Bücher kaufen, und dann ins Flugzeug, und wieder abheben, egal wohin. Gestern nacht träumte ich, ich sei wieder in Manderley...

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