Erste Häutung (Romankapitel)

...

Grellweißer Morgen. Ein Lichtspieß bricht sich im Spiegel der Fenster gegenüber und wirft helle Bahnen ins Schlafzimmer. Staubflusen steigen auf.

Sie blinzelt und hält sich die Hand vors Gesicht, bis das Deckbett zu einem feuchtheißen Brutofen wird. Draußen glüht der Frühsommer. Es ist Tag, sie muss auf. Sie holt ihre Hand ein, die weiß und tot auf der leeren Bettseite liegt. Sie wälzt sich rechtsherum. Im Flur klingelt das Telefon.

Sie lässt es klingeln. Lässt Wasser ins Waschbecken laufen und legt das Gesicht hinein.

Sie hat von ihren Füßen geträumt. Dass ihre Füße so tot waren wie die Hand auf der leeren Bettseite. Dass sie den linken nackten Fuß auf das rechte Knie hob und betrachtete wie etwas, was nicht zu ihr gehört. Der Rist und die Fersen waren mit toter Haut bedeckt, die sich in Flocken ablöste und herunterhing. So wie früher, wenn sie die Hornhaut am Ballen behandelte, griff sie nach dem Bimsstein und hobelte die weißen Fetzen herunter, dann stellte sie den Fuß ab und nahm sich den anderen vor. Als sie mit dem anderen, rechten Fuß fertig war, hing der linke schon wieder voll toter Schuppen.

Sie hobelte wütend, bis auf die ungeschützte rosige Haut. Blut floss. Aber sie sah es nur sekundenlang, dann war der Fuß wieder bedeckt von durchsichtiger toter Haut. Die Haut wuchs sofort nach; war rosig, blutete, starb und ging in Fetzen. Sie kam mit dem Hobeln nicht hinterher und warf den Bimsstein schließlich in die Ecke. Davon wurde sie wach.

Das Telefon klingelt. Sie geht nicht hin.

Sie schaut im Spiegel nach, ob sie noch Haare hat, ob die Zähne noch da sind. Man kann nicht wissen, was der Morgen bringt oder nimmt. Ihr Gesicht ist so glatt wie feines Porzellan, das bei der geringsten Berührung springen könnte. Sie klopft mit einer Fingerkuppe gegen ihre Stirn und wundert sich über den stumpfen Klang. Ihre Haare sind klebrig. Sie kämmt die langen Strähnen nach hinten. Zieht sich an. Die Hose von gestern, ein langes Hemd in einer Farbe wie Sauerkraut. Sie muss es irgendwann selbst gefärbt haben. Mit Beinwellblättern, erinnert sie sich. Es ist ein Leben lang her. Die Färbung war nicht lichtecht und verblich. Lichtscheu wie sie selbst.

Sie geht zurück ins Schlafzimmer, um das Fenster zu öffnen und das Bett aufzudecken. Vergisst ihren Plan und legt sich wieder hinein. Betrachtet ihre leere Hand auf der linken Bettseite.

Als das Telefon erneut klingelt, müht sie sich heraus und in den Flur.
Am anderen Ende nuschelt jemand. Sie hört Rauschen und fragt in einem Anflug von Neugier: »Wie bitte?«

Das Rauschen wird lauter. Dann piepst es. Es ist eine Schäfchenstimme, denkt sie; wenn ein Schäfchen sprechen könnte, hörte es sich so an. Und sie öffnet die linke Hand, während die Rechte weiter den Hörer ans Ohr presst, und schaut in die Höhlung zwischen den Fingern, als könnte sich dazwischen eines ihrer Wollschäfchen verbergen.

»Du«, piepst es im Hörer. »Du. Du. Du.«

Sie antwortet: »Warum ich?«

Und die Schäfchenstimme sagt: »Wünsch dir etwas.«

Sie legt den Hörer auf. Der Flurspiegel ist so blind, dass sie ohne Angst hineinsehen kann. Nichts in ihrem Gesicht verrät die toten Hautfetzen um die Füße.

»Ich wünsche«, sagt sie zum Spiegel. »Ich wünsche, das alles wäre nicht passiert. Ich wünsche, ich wäre gar nicht auf die Welt gekommen.«

Da rauscht die Welt zurück, und sie sieht alles neu. Zu ihren Füßen liegt der schwarze Hund; er schaut zu ihr hinauf und wedelt schwach mit dem Schwanz, der weht wie eine Fahne. Es ist ein Hütehund. Sie geht mit ihm hinaus, um die Schafe und Ziegen auf der Weide zu sehen, eine taufeuchte Weide in Niaux, im Schatten der hohen Berge. Sie lacht, als der schwarze Hund aus Übermut die Lämmer über die Wiese jagt, die mit den Hinterbeinen nach ihm auskeilen. Und die Welt rauscht zurück. Sie geht über die Weide zur Landstraße; die liegt jetzt oben im Norden; und riegelt die Tür zu der Bretterbude auf, an der Straße zum Wald Brocéliande, wo Merlin begraben liegt; da kommen immer Touristen vorbei. Sie kehrt der Straße den Rücken, räumt die Dekoration aus bunten Servietten vom Tresen und nimmt den Schafskäse von der Waage. Sie sagt »nein« zu dem grauhaarigen Mann, der sich über die Theke beugt und ihr Komplimente macht: sie sei nett, altmodisch, liebenswert. Dabei hat er ein wachsames Auge auf die Waage; sie hat es gut bemerkt. So ist er. Lang genug hat sie mit ihm zusammengelebt und beobachtet, wie achtsam er die Farbe auf die Leinwand tupfte. Ein Rentner, der in der Sonne lebt und malt. Er ist nicht mehr. Die Welt rauscht zurück; sie wendet ihm den Rücken.

Die Nacht ist kalt und klar; sie schließt die Tür zu ihrer Studentenbude in Mainz auf, einem winzigen Zimmer in einem Wohnheim. Sie macht Licht, stellt den Computer an, ordnet ihre Aufzeichnungen und klappt die Bücher auf und wieder zu. Sie hat vergessen, dass sie durchgefallen ist; weiß nur noch, dass sie fleißig war und gut gearbeitet hat. Das meiste hat sie vergessen.

Aber Nein zu sagen, hat sie jetzt endlich gelernt, und sie sagt »nein« zu der großen Schwester, die ihr ein halbvolles Weinglas bringt, schweren Rotwein, in dem schon Fruchtfliegen schwimmen; und sie sagt »nein« zu dem Vater, der über das Abiturzeugnis hinweg spricht. Aus dem Haus springt sie in der Morgensonne in ein Taxi, wirft ihre Tasche auf den Rücksitz. Ihre Füße hüpfen in den alten schwarzen Stiefeln. Das Taxi fährt rückwärts, und die Füße schrumpfen zu rosigen runden Gliedern, die nicht treten, und sie wird zu etwas, das nicht ist.

Nichts ist geschehen. Sie hat nichts mehr zu wünschen, war nicht, ist nicht. Und die Welt rauscht voran, die Füße schwitzen und häuten sich in den Springerstiefeln, sie tanzt mit dem grauhaarigen Mann, der sie liebevoll an sich drückt und ihr verspricht, dass sie schön sei. Das Weinglas ist wieder voll, es ist ein ganz junger Wein, ein roter Rauscher aus dem Roussillon, neu geboren wie sie. Sie zieht die Schuhe aus und tanzt auf den Zehenspitzen; die Nägel glänzen wie Muscheln, frisch gespült vom Meer. Sie steht am Telefon und malt mit dem Finger eine Acht in den blinden Spiegel. »Ich wünsche«, sagt sie.

Cora auf Reisen
Das Tierasyl
Das Zappelkaninchen
Der Meermann
Die See ist eine blaue Kathedrale
Erste Häutung (Romankapitel)
Fluchtpunkt
Goth und das Ungeheuer
Hummeln und Spinnen
Mann mit Hund
Netta tritt auf (Romankapitel)
Pusteblume - Hasensprung
Schafskrimi (Leseprobe)
Was das Kaninchen erzählt
Wie ich zweistimmig wurde
Wortgesang
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren