Was das Kaninchen erzählt

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Das Kaninchen ist nicht viel größer als eine Männerfaust. Sein weißes Fell ist an den Ohren dunkel gefleckt. Die Mitarbeiterin des Tierheims kennt es erst seit wenigen Wochen und weiß nicht genau, wo es herkommt. Doch kann sie versichern, dass das Tier gesund ist und alle notwendigen Impfungen bekommen hat. Mit vielen guten Wünschen übergibt sie es den neuen Besitzern: zwei Mädchen, die von ihrer Mutter begleitet werden.

Im Tierheim hat das Kaninchen geschwiegen und sich darauf beschränkt, hinter dem Maschendraht Klee zu mümmeln. In seinem neuen Zuhause redet es ununterbrochen.

Die kleine Schwester bemerkt es als erste. Bevor das Kaninchen ins Haus kam, hat sie sich kundig gemacht und ein Buch über artgerechte Haltung gelesen. Aus diesem Buch weiß sie, dass Kaninchen stumme Tiere sind. Nur wenn sie gereizt werden, fauchen oder grunzen sie. Vielleicht können sie auch schreien, aber das tun sie sicher nur in Todesnot.

Das neue Kaninchen mit den gefleckten Ohren schert sich nicht um dieses Verdikt. Wenn die kleine Schwester es im Arm hält, etwa bei den Schulaufgaben oder beim Fernsehen, spricht das Kaninchen leise vor sich hin. Dabei steckt es seinen Kopf in die Armbeuge des Mädchens, als wolle es gar nicht gehört werden. Das Mädchen schaltet den Fernseher aus und lauscht: Ja, das Kaninchen murmelt und knirscht und seufzt in leisen Lauten wie ein Mensch, der sich selbst eine Geschichte erzählt. Die kleine Schwester wagt den einen oder anderen Zwischenruf, aber das Kaninchen geht auf nichts ein. Es schwatzt unaufhörlich weiter wie ein Politiker bei einer Podiumsrede, aber leise, ganz leise.

Das Mädchen holt die große Schwester herbei und auch die Mutter, damit sie sich das seltsame Phänomen zu Gemüte führen, aber die finden es gar nicht weiter merkwürdig. Sie hören auch nicht richtig zu. Sie wollen sich nicht einlassen auf den unaufhörlichen Redestrom über Krokusse und Möhrengrün, Regengüsse und Frost, Unheil und Vernichtung. Das Kaninchen erhebt die Stimme nicht. Mit gleichmäßigem Murmeln, als rede es nur für sich selbst, erzählt es seine Geschichte. Darin kommen Lichtblitze vor aus grellen Scheinwerfern und zu Schlingen gebogene Drähte, unterirdische Gänge, Mondschein und Rübenkraut, Hunde und Gittertüren. Pusteblumen und im Morgengrauen aufjaulende Bagger, die Erdhügel niederreißen; manchmal auch Spritzen und blutende Wunden an den Ohren, und immer wieder der Mond, der volle gelbe Mond. Alles geht kunterbunt durcheinander und nimmt nie ein Ende. Die kleine Schwester versucht sich eine Meinung dazu zu bilden, aber sie begreift es nicht.

Nachts träumt sie manchmal von dem geschwätzigen Kaninchen, wie es eine weiße Straße entlang hoppelt und dabei etwas hinter sich herzieht wie eine Luftschlange: eine dürre Wortgirlande, die sich in die Büsche und Baumstämme am Straßenrand verheddert und immer länger wird. Die Girlande stört das Kaninchen nicht, es schleppt sie einfach nach. Erdklumpen hängen darin und von Raupen zerfressene Salatblätter, Petersilie und Katzenstreu. Die Schwatzgirlande des Kaninchens schlingt sich um die Füße der kleinen Schwester und bringt sie zum Stolpern. Vergeblich sucht sie zu folgen.



Trotzdem hört die kleine Schwester weiter zu, Tag für Tag. Was das Kaninchen erzählt, ist ihr fremd, aber nun will sie alles hören. Bis die Girlande sich vollends entrollt und das Kaninchen ihr über Gewehrschüsse erzählt und Stacheldraht, über Gaswolken, die in den Augen brennen, über fremde stechende Gerüche und leckende Feuerzungen und immer wieder über den Mond, den vollen gelben Mond.

Dann hat das Kaninchen sein Garn zu Ende gesponnen und verstummt für immer. Manchmal faucht es noch, wenn es gereizt wird. Vielleicht kann es auch schreien. Aber das wird es erst sehr viel später tun, wenn überhaupt.

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