Wie ich zweistimmig wurde

...

Seit heute habe ich zwei Stimmen. Eine Erst- und eine Zweitstimme. Die eine habe ich in Gebrauch, die zweite wohnt in meiner Küche.
Das ist so gekommen:
Ich wollte mir ein paar Brötchen zum Frühstück holen. Es war an einem Samstagmorgen Ende November. Die Zufahrt zu meiner Lieblingsbäckerei – sie liegt am Ende einer Einbahnstraße – war versperrt durch einen Feuerwehrwagen mit ausgefahrener Leiter. Am Ende der Leiter stand ein Mann in gelber Warnweste und pfriemelte Lichterketten an eine Straßenlampe. Es war deutlich zu sehen, dass er sich dort auf Dauer eingerichtet hatte.
Das Auto parken war unmöglich, es gab keine freie Lücke. Ich fuhr um den Block. Am falschen Ende der Einbahnstraße leuchtete einladend die Bäckerei. Gleich daneben war ein Kundenparkplatz. Mein Magen knurrte.
Ich fuhr zehn Meter weit in die Einbahnstraße hinein. Eigentlich waren es sogar nur acht Meter. Knapp zwei Autolängen. Ich stellte das Auto ab.
Gerade als ich ausstieg, hielt hinter mir ein dunkelblauer Corsa. Am Steuer ein Mann, der das Fenster heruntergekurbelt hatte. »Sie!«, rief er. Ich nahm ihn erst mal nicht zur Kenntnis. Zog meinen Einkaufskorb vom Rücksitz und klappte die Tür zu. »SIE!«, schrie der Mann. Es hätte albern ausgesehen, wenn ich ihn weiter ignoriert hätte. Ich ging auf den Corsa zu.
»Wissen Sie nicht, dass hier Einbahnstraße ist?«, brüllte er. »Sie fahren in die falsche Richtung!«
Mir lag schon auf der Zunge: »Dann rufen Sie doch die Bullen, Sie Blödmann!« – da blieb mir das Wort im Hals stecken. Der Mann in dem unauffälligen blauen Corsa hatte auf seinem unauffälligen blauen Pullover einen kleinen gestickten Schriftzug. Ich las »Polizei«.
Das ist doch keine Uniform! – schoss es mir durch den Kopf. Ist der jetzt im Dienst oder nicht? Ich wollte etwas sagen, musste plötzlich furchtbar husten und hielt mir die Hand vor den Mund. Aus meiner krampfenden Kehle schoss etwas Feuchtheißes und blieb mir zwischen den Fingern hängen. Erschrocken ballte ich die Hand zusammen.
»Das nächste Mal denken Sie dran!«, sprach die Stimme der Exekutive.
Ich wollte »Ja« und »Entschuldigung« sagen, brachte aber nichts heraus. Meine Kehle schien völlig verschlossen zu sein. Das kleine Ding wand sich in meiner Hand. Es fühlte sich glitschig an wie ein gut durchgekauter Kaugummi.
Der blaue Corsa rollte vom Parkplatz. Ich öffnete vorsichtig die Hand und schaute hinein. Das Ding war rosa und wurstförmig mit ein paar Einschnürungen. Es war so klein und nackt wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Während ich es anstarrte, machte es plötzlich einen Hüpfer und quietschte.
Es war meine Stimme. Meine Stimme war mir aus dem Hals gesprungen.
Da gab es keinen Zweifel. Denn in meinem Hals war nichts; ich versuchte mich zu räuspern, aber es kam nur ein Rascheln wie von welkem Laub heraus. Ich hatte keine Stimme mehr. Sie lag in meiner Hand.




Ohne einzukaufen, sprang ich wieder ins Auto und hastete einhändig lenkend nach Hause, die Hand um die Stimme gekrampft. Was sollte ich damit machen? Feucht halten, bestimmt. In Formalin einlegen. Aber so was hatte ich natürlich nicht im Haus. Vielleicht tat es auch hochprozentiger Alkohol? Bier genügte sicher nicht. Ich fand eine kleine Flasche Grappa im Küchenschrank, die mir mein Nachbar mal geschenkt hatte. Das Zeug war uralt, aber Alkohol verfällt ja nicht. Oder? Ich füllte ein ausgewaschenes Marmeladenglas mit Grappa und tat die Stimme hinein. Sie quietschte und hickste, dann versank sie blubbernd in der Flüssigkeit.
Ich versuchte, in Ruhe zu überlegen. Wie implantiert man eine Stimme wieder in den Hals? Den Arzt anrufen? Ich hatte schon den Hörer in der Hand, da fiel mir ein, dass ich nicht mehr reden konnte. Meine Stimme lag in Grappa.





In den folgenden zwei Wochen musste ich ohne Stimme auskommen. Das ging erstaunlich gut. Viel besser, als ich vermutet hätte.
Zur Zeit verdiene ich mein Brot als Apothekengehilfin. Das ist eine Tätigkeit, bei der man tagelang stumm bleiben kann. Ich wickelte mir eine dicke Schaumstoffmanschette um den Hals. Wenn mich jemand etwas fragte, zuckte ich die Achseln und zeigte auf die Manschette.
Natürlich konnte ich nicht mehr bedienen. Die Chefin schickte mich ins Hinterzimmer, wo ich Salben zusammenrührte und Kapseln mit Spezialpräparaten füllte.
Wenn ich nach Feierabend heimkam, begrüßte ich als erstes die Stimme. Ich klopfte ein wenig gegen das Marmeladenglas. Manchmal gab die Stimme dann einen zarten Gickser von sich. Sonst verhielt sie sich ruhig. Nur spät abends, wenn ich den Fernseher abschaltete und es plötzlich ganz still in meiner Wohnung wurde, hörte ich sie manchmal leise singen. Natürlich ohne Worte, sie hatte ja weder Lippen noch Zunge. Aber ich erkannte die Melodien. Das alberne Lied von dem Rentier Rudolph sang sie - das hätte ich ihr nicht erlaubt, wenn sie noch in meiner Kehle gewesen wäre. Und einmal sang sie auch »Stille Nacht«.
Die Flüssigkeit in dem Marmeladenglas wechselte ich natürlich regelmäßig. Für den Fall, dass Grappa meiner Stimme nicht schmeckt, füllte ich am zweiten Tag einen guten Gin ein, am vierten Tag einen weißen Rum und nach einer Woche einen Williamsbirnengeist.
Manchmal beschloss ich, zum Arzt zu gehen. Ich packte das Marmeladenglas mit der Stimme ein und setzte mich mit einem Schreibblock hin, um meine Geschichte aufzuschreiben. Doch dann überlegte ich es mir anders. Mein Fall war einmalig, dessen war ich sicher. Man würde mir die Stimme wegnehmen und sie auf medizinischen Kongressen herumreichen. Das durfte ich nicht riskieren.




Heute, am 15. Dezember, bekam ich meine Zweitstimme.
Ich saß wie üblich im Hinterzimmer der Apotheke und tütete Medikamente ein für den Kurierdienst.
Vorne im Verkaufsraum war viel Betrieb. Meine Kolleginnen hasteten immer aufgeregter herum. Ich hätte ihnen gern geholfen, aber ich konnte ja nicht.
Bei meinen Aufträgen war eine Anforderung über ein Migränemittel für Frau Kaspari, Klempererstraße. Die Frau Kaspari war früher Tierärztin. Seit sie zwei Schlaganfälle gehabt hat, arbeitet sie nicht mehr. Aber früher hat sie immer meine beiden Zwerghäschen betreut. Inzwischen sind beide tot, aber sie sind zwölf und dreizehn Jahre alt geworden, ein biblisches Alter für Zwerghäschen, und das verdanke ich bestimmt der Frau Kaspari.
Ich machte die Medikamententüte für sie fertig und dabei fiel mir ein, dass ich ihr bei der Gelegenheit eine Freude machen könnte. Frau Kaspari liebt über alles diese fürchterlich beißenden Halspastillen, die »Fisherman's Friends« heißen. Die gab es gerade in einer besonderen Weihnachtspackung mit aufgedruckten Tannenzweigen und Schleifchen. Ich beschloss, ein Päckchen davon mit in ihre Tüte zu tun. Dazu musste ich allerdings in den Verkaufsraum, wo die Fisherman’s im Regal lagen.
Wir haben vier Theken, und an allen standen Leute. Unter ihnen war ein großer Kerl mit angegrauten Schläfen, der einen dunkelblauen Pullover anhatte. Ich erkannte ihn sofort. Es war mein Gesetzeshüter vom Parkplatz.
Ich tat mein Bestes, nicht bemerkt zu werden, zog den Kopf ein und langte ganz vorsichtig in den Ständer mit den Halspastillen. Doch er hatte mich schon gesehen. »Sie!«, brüllte er los. »SIE! Sind Sie übergeschnappt? Was fällt ihnen ein, Geschichten über mich zu schreiben? Sie ruinieren meinen Ruf! Ich werde Sie wegen übler Nachrede verklagen, Sie!«
Ich hatte die Fisherman's schon in der Hand. Da ritt mich der Teufel. Ich riss das Päckchen auf und schüttete mir den ganzen Inhalt in den Hals. Es brannte wie Feuer. Und ich dröhnte zurück: »Ach, Sie sind es! Was darf es heute sein? Ist der Fußpilz noch nicht weg? Oder brauchen Sie wieder was gegen Mundfäule?«
Einen Augenblick war ich selbst fassungslos. Wo kam diese neue Stimme her? Sie klang rau und durchdringend wie ein Nebelhorn. Er machte den Mund auf und zu, aber es kam nichts heraus. Mein Blick fiel auf seinen Pullover - auf das gestickte Emblem auf seiner Brust. Da stand gar nicht »Polizei«. Ich hatte falsch gelesen. Es hieß »Pozilei«.
»Ich hab auch wieder Hämorrhoidenzäpfchen da!«, röhrte ich. »Und Kondome mit Himbeergeschmack! Alles, was Sie wollen!«
Dann rauschte ich hinaus. Es waren ungefähr zwanzig Leute im Verkaufsraum, und alle waren sprachlos. Als sei ihnen die Stimme davongehüpft.
In dem Fisherman’s-Päckchen war noch eine einzige Pastille. Ich steckte es in die Tüte für die Tierärztin und schrieb einen Gruß von meinen verstorbenen Zwerghäschen dazu.
Beim Ladenschluss heute Mittag schickte man mich dann bis auf weiteres in Urlaub. Ich weiß nicht, ob meine Zukunft im Hinterzimmer einer Apotheke liegt, vielleicht sollte ich lieber zur Bühne. Zur Zeit übe ich »White Christmas« in meiner Küche. Die Erststimme hüpft dazu in ihrem Glas auf und ab. Ich habe ihr diesmal reinen Wodka gegeben, das soll gut für die Stimme sein und macht Haare auf der Brust.

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