Der Meermann

...

Ich bin kein Mann des Wortes. Ich lese nicht gern, außer Fachliteratur und Zeitungen. Wie man von einem Roman oder einem Gedicht tagelang gefesselt sein kann, habe ich nie verstanden. Ausgerechnet ich bin nun seit zehn Jahren Opfer eines Textes. Es ist ein zwölf Seiten langes Dokument, das ich mit mir herumtrage. Wenn es abgegriffen ist, drucke ich es neu aus. Ab und zu lese ich es durch oder zeige es jemand anderem. Noch nie hat mir jemand Auskunft geben können, was genau darin steht. Ich weiß nur noch, dass es sich um eine Erzählung handelt; vermutlich eine Gruselgeschichte.
Als ich nach Deutschland zurückkam, mit zwei Koffern und meinem Notebook, war jener Text – damals in Form einer Worddatei – mein kostbarster Besitz. Inzwischen hat er verschiedene Bedeutungen angenommen. Eine Zeitlang war er mir wie ein geliebtes, etwas anstrengendes Kind, das Aufmerksamkeit verlangt; inzwischen ist er zu einem Wechselbalg geworden, einem Alptraum, der an meinen Fersen klebt. Ich werde mit diesem Text alt werden und sterben. Und das Schlimmste ist: Ich selbst habe ihn verfasst. Warum nur?


Ich bin Meeresbiologe. Mit einem Spezialauftrag kam ich für sechs Monate in eine Forschungsstation auf Ellesmere Island. Das liegt im nördlichen Eismeer, weitab von allem.
Die Forschungsstation war von einer großen Gruppe Geologen belegt, die nach radioaktivem Material bohrten. Sie holten Bodenproben hoch, und ich untersuchte sie auf organische Reste. Es ging dabei um die Vernetzung klimageschichtlicher Daten; nichts besonders Wichtiges. Ich fand auch nichts. Die Bodenproben waren so gut wie tot. Aber die Geologen hatten gute Ergebnisse und bohrten weiter, und da ich mit meinem Auftrag an die Gruppe angedockt war, untersuchte ich weiter.
Anfangs hatte ich niemanden zum Reden. Der Bohrtrupp bestand aus Japanern, die unter sich blieben und so taten, als verstünden sie kein Englisch, wenn es nicht um die Arbeit ging. Die Geologen waren Amerikaner, auch Frauen darunter. Alle sprachen einen schwer verständlichen Mittelwestslang und verbrachten ihre Freizeit mit Ballerspielen am Computer. Wir hatten einen Piloten für das Kufenflugzeug, wenn größere Ausflüge geplant waren. Und dann waren noch drei norwegische Studenten dabei, zwei Mädchen und ein Mann, dünne Nerds mit dicken Brillen. Die wollten für ihre Diplomarbeit Grauwale beobachten, aber kein Grauwal ließ sich blicken. Die Geologen witzelten endlos und schlaff herum, die Grauwale seien dieses Jahr verhindert, hätten wohl irgendwo im Pazifik Engagements für Liederabende mit Harfenbegleitung und Schönheitstanz. Lustig war das nicht. Die Grauwalstudenten machten unterdessen die Küchenarbeit und finanzierten damit ihren Aufenthalt.

Das Projekt war auf ein halbes Jahr angelegt. Die ersten vier Wochen gingen noch an; es gab natürlich keine Internetverbindung, aber ich hatte mir Ebooks mitgebracht und Filme standen zur Verfügung.
Ein Sommer im Eismeer: Es ist immer hell, ununterbrochen, Tag und Nacht. Entweder wolkt und graut alles in Nebel oder man starrt rund um die Uhr in eine gleißende Sonne. Das ganze Zeitgefüge gerät durcheinander. Ich wusste nie, ob ich schlafen oder wachen sollte – und was ich überhaupt tun sollte. Eines Tages jedenfalls – oder war es eines Nachts? – saß ich in der Kombüse und ließ mich voll laufen – Schnaps gab es genug in der Station, da hatte jemand vorgesorgt, gesegnet soll er sein. Und an diesem Abend setzte sich der Pilot zu mir; ziemlich schlecht gelaunt, weil auch er niemanden zum Reden hatte. Er sprach ein sehr schönes, klangreines Englisch ohne merkbaren Akzent. Langsam und deutlich schmeckte er jedes Wort ab. Ich fragte ihn, woher er stamme, und er antwortete: Aus Igruan.

Ich hörte den Namen zum ersten Mal. Igruan ist ein kleines Gebiet in Karelien, in der früheren Sowjetunion. »Da lief alles sehr schlecht«, sagte der Pilot in seinem eigentümlich zögernden Tonfall, als bewege er sich durch vermintes Sprachgelände. Ich fragte, ob es ein schönes Land sei; er dachte kurz nach, ehe er antwortete: »Wald und Wald.« Die Familie unseres Piloten war ausgewandert, als er fünf war. Später kam er nach Schweden, heiratete und nahm den Namen seiner Frau an: Er hieß jetzt Targuin Osiandersson. Aber die igruanischen Laute blieben tief in seinem Gedächtnis verhaftet. Manchmal träumte er in Igruanisch, erzählte er mir. Ich wollte die Sprache hören. Er begann, mir aus dem Gedächtnis igruanische Gedichte aufzusagen. Da er sich nur an einzelne Zeilen erinnerte, ging alles durcheinander, aber ich verstand ja ohnehin nichts. Die Sprache klang wunderschön. Dunkle Laute, die sanft aneinander stießen wie Eisschollen auf einem weißen See. Später fing er an zu singen. Wir leerten die Schnapsflasche. Er brachte mir ein paar Worte bei. Diese ersten Worte habe ich längst vergessen, wahrscheinlich waren es unanständige. Ich weiß aber noch, dass sie weder russisch noch finnisch klangen.
Wir freundeten uns an, der Pilot und ich. Um die Zeit hatten wir eine Schönwetterperiode mit strahlend blauem Himmel und bunten Reflexen auf der Schneelandschaft. Und so wanderten wir stundenlang hinter unserem Bunker auf und ab und redeten über die igruanische Sprache. Das heißt, er redete und ich hörte zu. Er gab sich Mühe und kramte alles zusammen, was er noch wusste. Mehrmals warnte er mich, sein Gedächtnis sei ein Müllhaufen; aber er konnte mir jedenfalls einen Grundwortschatz beibringen. Ich übte die Aussprache und die ungewohnten Grammatikregeln – vier Arten des Futurs. Ich werde etwas sein, ich werde etwas werden, ich werde etwas gewesen sein; ich werde irgendwann planen, in ferner Zukunft etwas zu werden oder gar etwas gewesen zu sein. All das sagte Targuin mir unter dem grellen Eismeerhimmel vor, während wir einen Pfad durch den funkelnden Schnee trampelten.
Ich lernte sehr schnell. Schon nach zwei Wochen konnte ich Sätze bilden und eine kleine Geschichte erzählen. Am Ende meines Aufenthalts war ich so weit, dass ich eine große Geschichte erzählen konnte. Ich schrieb sie auf und zeigte sie Targuin, der beifällig nickte. Es ging darum um Grabungen, um labyrinthische Gänge in den Tiefen der Erde und um fremdartige Wesen, die sie bevölkern. Der Titel lautete »Dunkles Geheimnis«. Im Deutschen klingt das so platt. Jedes Geheimnis ist dunkel, ebenso wie jeder Abgrund bodenlos und jede Qual höllisch ist. Man kann es einfach nicht angemessen übersetzen.


Ich kam zurück mit zwei Koffern, meinem Notebook, das mein dunkles Geheimnis in Form einer Worddatei enthielt, und einem zerfledderten Vokabelheft. Ich landete in Hamburg und telefonierte nach einem Taxi. Es war nach Mitternacht, das übliche Schmuddelwetter, halbgefrorene Nässe. Während ich auf das Taxi wartete, blätterte ich in meinem Heftchen. Ein Auto kam angefahren, ich hielt es für das richtige, trat an den Bordstein und winkte. Aber es fuhr vorbei und überschüttete mich mit einem Sprühregen. Mir fiel das Heft aus den Händen. Im Rinnstein lagen matschige Schneeklumpen, und als ich es wieder eingesammelt hatte, waren die Einträge verschmiert und das Papier löste sich auf. Ich konnte nur zwei Seiten retten. Kr bis Mn. Im Igruanischen gibt es erstaunlich viele Wörter, die mit Mn anfangen.
Es war ärgerlich, aber der Verlust war nur ein sentimentaler. Ich wollte mir ohnehin ein richtiges Wörterbuch und eine Sprachlehre kaufen. In Hamburg hatte ich eine Wohnung zur Zwischenmiete, weil ich zwei Monate später zu einem Freund in Heidelberg ziehen wollte. Es gab bis dahin nichts zu tun, also stürzte ich mich sofort in meine Nachforschungen: Google, die Büchersuche. Ich fand über eine Suchseite mit Antiquariaten einen igruanischen Sprachführer und ließ ihn mir schicken. Die igruanische Sprache existierte fast nicht mehr, die Reste waren in mehrere Dialekte zerfallen. Die Wörterliste in dem Buch stimmte nicht einmal annähernd mit meiner Erinnerung überein. Das gleiche galt für die Angaben zur Aussprache. Igruanisch, egal in welchem Dialekt gesprochen, klang anders. Irgendwie verkniffen. Die vorherrschende Lautfolge war n-j. Njet, njet.
Was hatte Targuin mir beigebracht? Ein Produkt seiner Phantasie. Ungeordnete Brocken in der Erinnerung eines Emigranten, der nie Gelegenheit gehabt hatte, seine Muttersprache richtig zu lernen. Vermutlich hielt er das, was er mich lehrte, für korrekt. In Wahrheit gleicht es keiner Sprache, die es gibt. Sie existiert nur in meiner Worddatei.


Jahrelang habe ich alles getan, um diese Sprache zu retten, ehe es zu spät ist. In meiner freien Zeit memorierte ich ständig im Kopf die Vokabellisten, ich legte ein neues Heft an, las immer wieder meinen Text durch, führte in Gedanken Gespräche mit Targuin. Mein Heidelberger Freund meinte, ich sei in der Forschungsstation verrückt geworden. Er sprach von Hüttenkoller und empfahl mir, zum Arzt zu gehen. Inzwischen habe ich eine Stelle an einem meeresbiologischen Institut in Stralsund. Wann immer ich Zeit habe, gehe ich am Strand auf und ab und sage den Möwen meine Geschichte auf. Manchmal kommt mir alles sinnlos vor, dann lösche ich die Datei von meinem Rechner und werfe alle Aufzeichnungen weg. Aber wenige Wochen später rekonstruiere ich alles wieder. Zur Sicherheit habe ich eine ganze Anzahl von Datenträgern an Freunde und Kollegen übergeben. Auch ein Rechtsanwalt in Rostock bewahrt eine CD für mich auf. Selbst wenn ich in einem Wutanfall alles wegschmeiße, kann ich mich später immer noch an meine Freunde wenden. In den letzten zehn Jahren ist das dreimal geschehen. Beim letzten Mal habe ich es fast zwei Jahre ohne Igruanisch ausgehalten. Ich habe mir sogar verboten, mit mir selbst Igruanisch zu sprechen. Wenn ich aus Gewohnheit etwas Igruanisches zu mir selbst sagte, tat ich so, als verstünde ich nicht. Nach zwei Jahren bröckelte mein Widerstand. Als ich mir die Daten wieder besorgt hatte, sagten sie mir beinahe nichts mehr. Ich wusste nicht, wie ich die Worte aussprechen sollte, und musste alles neu lernen. Es war mühsam.

Natürlich habe ich auch versucht, Targuin wiederzufinden. Er ist inzwischen geschieden und hat einen Forschungsauftrag auf Sachalin angenommen. Vielleicht sehe ich ihn eines Tages wieder. Aber ich vermute, er versteht mich dann nicht mehr.

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