Goth und das Ungeheuer

...

Drei Wochen nach Professor Erdmanns Unfall besichtigte sein Kollege Goth dessen ehemaliges Büro. Zwar war die Professur noch nicht aufgelöst und die Semesterferien standen kurz bevor, aber das hielt Goth nicht davon ab, symbolisch Besitz von den Räumen zu ergreifen: Man würde sie ihm zuteilen, inoffiziell stand das bereits fest. Ein wenig außer Atem – das Büro lag im vierten Stock und Professor Goth verachtete Fahrstühle – rieb er sich die Hände, registrierte die weißen Wände, das glänzende Parkett und die Fenster, durch die das Sonnenlicht einfiel. Die Fenster lagen nach Südwesten und reichten bis zum Boden, in Kniehöhe mit Eisengeländern gesichert. In seiner alten Professur mit den Nordfenstern sah Goth kaum je etwas anderes als graues Tageslicht.

Überall wucherte Grünzeug, wie beim Kollegen Erdmann nicht anders zu erwarten. Pflanzen waren seine Passion gewesen. Die zwei Treibhäuser auf dem Campus, in denen er Tomaten, Bohnen und Kohlrüben wechselweise mit Händel, Gorecki und Guns N’ Roses berieselt hatte, wurden nun von jemand anderem betreut. Professor Goth hatte keine Ahnung, wer Erdmanns Versuchsreihe fortsetzte, und es war ihm auch egal. Was ihm nicht egal war, das waren die Büroräume. Da seine eigene Forschung sich derzeit auf die DNA von Erbsen konzentrierte, hatte er nicht die Absicht, in einem Dschungel zu arbeiten. Mit mühsam verhohlener Gereiztheit zeigte er auf das Durcheinander von blühenden Orchideen, Bromelien und zwei Kübeln mit riesigen ficus benjamini. »Das muss alles weg, ich kann so nicht denken, das nimmt mir die Luft!«

»Wir kümmern uns darum, Herr Professor!«, versicherte die Sekretärin. »Professor Erdmanns Frau wird alles in den nächsten Tagen abholen. Lassen Sie ihr doch ein bisschen Zeit!«

Natürlich lag es Goth fern, die Witwe zur Eile anzutreiben. Es war auch nicht nötig: Noch vor Beginn des Wintersemesters waren Erdmanns Möbel ausgeräumt, die Zimmerflucht gründlich geputzt und gelüftet. Ein Trüppchen Studenten besorgte Goths Umzug. Inmitten eines jungfräulich weißen Büros erwarteten ihn sein alter Schreibtisch, die Regale mit Aktenordnern und das Schränkchen mit der Weinbrandflasche.

Die Sekretärin übernahm Goth gleich mit: Seine eigene war seit April in Mutterschaftsurlaub. Das hatte Goth seinerzeit in eine tiefe Krise gestürzt. So großartig war sie zwar nicht gewesen – eine pummelige, strubbelige, konsequent ineffektive Person –, aber allein die Vorstellung, eine Neue anzuwerben und einzuarbeiten, türmte sich vor ihm wie ein abstoßend grauer Berg zusätzlicher Arbeit. Erdmanns Sekretärin war ein wahres Goldstück, trotz ihres grün gestreiften Raspelhaarschnitts. In wenigen Wochen kannte sie sich in seinem Papierkram besser aus als er selbst, verstand aufs Beste Studenten abzuwimmeln und Goths Earl Grey erstklassig zuzubereiten. Wenn seine Alte überhaupt zurückkehrte, beschloss er, würde er ihr den Laufpass geben.

Goth richtete sich ein. Der Spätsommer war heiß und sonnig, Erdmanns Grünkram verschwunden und die Professur kahl. So ganz steril und weiß fand Professor Goth das auch wieder nicht gut. Das Sonnenlicht wurde von den weißen Wänden reflektiert und gleißte auf seinen Papieren und dem Computerbildschirm. Er ließ einen blauen Druck von Chagall aufhängen und suchte sich auf seine Erbsen zu konzentrieren. Die Helligkeit machte ihm weiter zu schaffen. Ein paar Mal zog er die Vorhänge zu, aber das kam ihm vor wie Flucht. Die Aussicht war doch so schön! Aus seinem alten Nordfenster hatte er nur kümmerliche Feuerdornsträucher gesehen. Hier öffnete sich der Blick auf uralte Kastanien, unter denen Wildkaninchen umhersprangen. Der einzige Schönheitsfehler war ein Komposthaufen unter einem seiner Fenster. Bei anhaltend trockenem Wetter roch er nach frischem Heu von dem Rasenschnitt, den die Hausmeister dort abluden. Nur wenn es richtig schwül war, begann der Haufen gemein zu riechen. Einfach gemein.

Manchmal stand Professor Goth am Fenster, betrachtete den Komposthaufen und schnupperte. Der Geruch ließ ihn nicht los. Professor Erdmann hatte ihn sicher gemocht. Aber es war nicht dieses Fenster, aus dem er seinen tödlichen Sturz getan hatte, das wusste Professor Goth. Auf den Komposthaufen zu fallen, hätte ihn nicht umgebracht. Nein, er war aus einem Fenster im Vorzimmer gestürzt, als die Sekretärin gerade in der Mittagspause weilte. Unter dem Fenster war Kopfsteinpflaster. Üblicherweise standen dort Müllcontainer, aber an diesem Tag hatte man sie zum Leeren weggeschafft.

Nichts hatte den Sturz aufgehalten, Professor Erdmann war auf das erbarmungslos harte Pflaster geknallt und sofort tot gewesen. Und wie man hörte, starb mit ihm auch seine Versuchsreihe, denn die Tomaten, Bohnen und Kohlrüben in den Gewächshäusern wollten seit seinem Tod nicht mehr so recht gedeihen, obwohl Erdmanns Studenten gewissenhaft weiter Händel, Gorecki und Guns N’ Roses im Wechsel applizierten. Diese Tatsache hatte etwas Befriedigendes. Ja, Professor Goth war durchaus zufrieden, dass diese Versuchsreihe nun im Sand verlief. Und schließlich hätte auch Erdmann sich darüber gefreut, dass sein Grünzeug ihn vermisste.

Im Vorzimmer der Professur wuchs ein wahres Ungetüm von einer Pflanze. Professor Goth, seiner sterilen weißen Wände müde, betrachtete es eines Tages mit begehrlichen Augen und fragte die Sekretärin: »Was ist das eigentlich für ein Gewächs?«

»Das hat schon immer hier gestanden«, war die Antwort. »Professor Erdmann hat sich darum gekümmert.«

»Und wie heißt es?«

»Professor Erdmann nannte es Monstera. Die deutsche Bezeichnung kenne ich leider nicht.« Sie holte aus einer Schublade einen Zimmerpflanzenführer und schlug nach. »Ja, da haben wir es: Monstera deliciosa

»Das köstliche Ungeheuer«, übersetzte Professor Goth lehrerhaft.

Er hatte große Lust, der Sekretärin die Pflanze abzuschwatzen, ließ es dann aber doch bleiben. Die grün gestreifte Dame schien die Monstera als Erdmanns geheiligtes Vermächtnis zu betrachten und betreute sie mit stiller Effizienz.

Goth sah das mit Missvergnügen. Die Professur hatte er sich gewünscht und bekommen, die Sekretärin hatte er gewünscht und bekommen ... warum bekam er nicht auch die Pflanze, die er sich wünschte?

Auch die Monstera trauerte um Erdmann. Ende September stellte die Sekretärin fest, dass alle Blätter fahlgelbe Flecken aufwiesen.

»Irgendwas stimmt da nicht!«, klagte sie und hantierte mit Düngemittel und Pilzspray. »Ich hab keine Ahnung, was das sein kann, so was hab ich noch nie gesehen!«

Als sie mittags zu Tisch ging, schlich der Professor ins Vorzimmer und zählte die Blätter des Ungeheuers durch: Es waren nicht weniger als hundertachtundsiebzig Stück, und alle wiesen exakt das gleiche deutlich ausgebildete Fleckenmuster auf, als habe die Pflanze sich entschlossen, über Nacht einen komplett neuen Look anzunehmen.

Professor Goth riss ein Blatt ab, nahm es mit in sein Arbeitszimmer und versenkte sich in die Betrachtung der Flecken. Ihm war, als wolle das Blatt ihm etwas mitteilen, aber die Kraft reichte nicht – seine eigene oder die des Blattes.

Er wurde gestört durch den Besuch zweier Studenten, die ihn etwas fragen wollten. Ihre breiten Schultern und muskulösen Arme – die beiden sahen aus wie die Brüder Klitschko – brachten Goth auf eine Idee. Er wies sie an, das Ungeheuer aus dem Vorzimmer in sein eigenes hinüberzutragen. Dort, neben dem Fenster mit dem Komposthaufen, war ein guter Platz. »Dir werd ich die Flausen schon austreiben«, murmelte er vor sich hin und merkte kaum, dass die beiden Studenten im Hinausgehen vielsagende Blicke wechselten.

Er schloss sein Büro ab und holte sich zwei belegte Brötchen aus einem nahe gelegenen Feinkostgeschäft. Neben der Kasse stand ein großer Korb mit Äpfeln. Jeder Apfel hatte auf seiner roten Schale ein kleines gelbes Herz.
Er nahm einen heraus und rieb ihn an seinem Jackett blank.

»Faszinierend, nicht wahr?«, bemerkte die Kassiererin. »Wissen Sie, die Apfelbauern kleben so kleine Papierherzchen auf die Äpfel, dann werden sie an dieser Stelle nicht rot, sondern bleiben hell.«

»Das ist mir klar, junge Frau«, gab der Professor zurück. »Wer sollte das besser wissen als ich. Ich bin Biologe.«

Sie erblühte rot. Unwillkürlich erwartete der Professor auf ihren Wangen gelbe Herzchen erscheinen zu sehen, aber natürlich geschah nichts dergleichen.

Am Nachmittag schnitt er von dem Ungeheuer zwei weitere gefleckte Blätter ab und begab sich ins Labor. Wie er gehofft hatte, war es leer; das schöne Spätsommerwetter hatte seine Doktoranden frühzeitig in den Feierabend getrieben. Professor Goth zündete einen Brenner an, stellte einen Dreifuß darüber und setzte ein Messglas mit Spiritus auf. Binnen kurzem begann der Spiritus zu sieden. Obwohl der Abzug auf vollen Touren lief, drang ein stechender Geruch heraus. Der Professor legte die Blätter in das Glas und sah zu, wie das Ganze kochte.

Nach zehn Minuten waren die Blätter fahlgelb. Goth holte sie mit einer Pinzette aus dem Glas und spülte sie unter fließendem Wasser gründlich ab. »Nun wollen wir doch mal sehen ...«, murmelte er.

Wie ging es weiter? »Stärkenachweis ... Kaliumiodid ...« Richtig: Iod-Kaliumiodidlösung. In einem gut sortierten Labor natürlich vorhanden. Er holte die braune Flasche aus dem Schrank, ließ die Flüssigkeit in ein neues Glas blubbern und legte die Blätter hinein.

Stirnrunzelnd beobachtete er die Vorgänge im Glas, wie ein Fotograf in der Dunkelkammer sein Entwicklerbad.
Und tatsächlich tat sich etwas ... die Blätter wurden erneut fleckig. Nur mit umgekehrten Vorzeichen. Da, wo sie vorher dunkel gewesen waren, wurden sie nun hell.

»Da soll aber doch ...!«, entfuhr es dem Professor. Nun, da sich das Negativ zum Positiv gewandelt hatte, erkannte er deutlich das Bild in dem Fleckenmuster. Es war ein Porträt seines eigenen Gesichts. Immer deutlicher bildete es sich aus, so gestochen scharf, dass sogar ein Ausdruck zu erkennen war: verzerrt von Wut oder einer gewaltigen Kraftanstrengung. Oder beidem.

In Eile räumte der Professor seine Gerätschaften weg, beseitigte alle Spuren und schloss das Labor ab. Das durfte nicht sein, da war Hexerei am Werk. Die Pflanze hatte ihn fotografiert!

Ja, er erinnerte sich genau, wie er immer wieder Erdmanns Revier mit begehrlichen Blicken betrachtet hatte. Die großen, hellen Räume und die stille, tüchtige, effiziente Sekretärin. Erst recht nachdem seine eigene Sekretärin, diese unfähige, pummelige, strubbelige Person, angekündigt hatte, in Mutterschaftsurlaub zu wollen, als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Er erinnerte sich auch an ein Gespräch mit Professor Erdmann irgendwann im Sommersemester, eine wenig kollegiale Diskussion über Studenten, die ihre Zeit in Erdmanns Gewächshäusern verplemperten. Im Vorzimmer der Professur war das gewesen. Erdmann, obwohl schon beinahe siebzig, hatte angekündigt, noch mindestens zwei Jahre weiterzumachen. Da stand er, klein und grauhaarig, und beharrte auf seinem Recht, noch zwei Jahre die Professur zu blockieren, die Sekretärin, die Forschungsgelder für seine musikalischen Experimente und die Arbeitskraft der Studenten. Noch mindestens zwei Jahre. Und Goths Forschungen mit der Erbsen-DNA hatte er als »Beitrag zum gentechnologischen Terror« bezeichnet. Das Fenster stand einladend offen.

Und das Ungeheuer daneben sah zu.

Zurück ins Büro. Die Sekretärin war auf einem Dienstgang. Das fleckige Ungeheuer machte sich in Goths Zimmer breit und schrie sein Wissen in die Welt hinaus. Professor Goth stürzte sich auf den Pflanzkübel und zerrte ihn zum Fenster. Die schmiedeeiserne Brüstung reichte bis zu seinen Knien. Mit aller Kraft hievte er den Kübel hoch. Das war doch gelacht – er hatte Erdmann gestemmt, nun würde er doch wohl auch das Ungeheuer stemmen können. Schwer atmend stützte er den Kübel auf das Geländer. Die braunen Luftwurzeln wedelten um sein verschwitztes Gesicht herum, als suchten sie Halt.

»Hasta la vista, Baby!«, stieß Goth hervor und wuchtete den Kübel über die Kante.




»Sie müssen zugeben, das ist wirklich ein eigenartiges Zusammentreffen, zwei tödliche Stürze in Folge«, stellte der Kommissar fest und zupfte sich ein paar grüne und braune Blatt- und Wurzelfetzen von seinem blauen Hawaiihemd.

Der Dekan der Universität, silberhaarig und in vornehmes Anthrazit gekleidet, schwitzte aus allen Poren. »Ich kann mir das auch nicht erklären ... die Geländer sind streng nach Bauvorschrift angebracht!«

Vorsichtig lehnte der Kommissar sich hinaus. »Genau genommen drei Tote, wie es aussieht«, murmelte er in sich hinein.

»Wie meinen?«

»Ich meine die Pflanze.« Das Pflaster unterhalb des Fensters war mit einer Blutlache bedeckt. Rundherum war alles übersät mit Scherben eines Pflanzkübels, zerfetzten Blättern und Erdbrocken. »Ein Philodendron, nicht wahr?«, bemerkte der Kommissar.

Die Sekretärin widersprach nicht. Immer noch schwach in den Knien, lehnte sie in Goths Schreibtischstuhl – sie hatte die Leiche gefunden.

»Anscheinend«, stellte der Kommissar fest, »wollte der Professor das Gewächs durch das Fenster befördern. Und dabei haben sich wohl die Dinger hier im Geländer verfangen, oder?« Um die Eisenstangen hingen abgerissene Luftwurzeln. »Dadurch verlor er das Gleichgewicht und ging mit über Bord.«

Der Dekan lockerte seinen Schlips. »Wissen Sie, Herr Kommissar, eigentlich hätte da gar nichts passieren dürfen, normalerweise ist unter dem Fenster der Lagerplatz für unseren Rasenschnitt. Aber gerade heute ist alles weggeschafft – es wurde zu viel, verstehen Sie, die Hausmeister haben es in Säcke gefüllt und zur Biomülldeponie gefahren. Tragisch, wirklich tragisch. Wäre das hier gestern passiert, der Kollege Goth wäre weich gefallen.«

»Tja. Tragisch.« Der Kommissar wickelte die braunen Stränge vom Geländer ab und rollte sie sich um die Finger. »Ist schon verrückt, es sieht beinahe aus, als hätte die Pflanze versucht, sich festzuhalten, was? Wer weiß schon, was so ein Riesengewächs fertig bringt, wenn es um Leben und Tod geht.«

Die Sekretärin hatte sich aus dem Bürostuhl aufgerafft und trat neben ihn. Mit deprimierter Miene schaute sie aus dem Fenster auf das Pflaster, auf dem Goths übel zugerichtete Leiche gelegen hatte. »Professor Erdmann hätte sich gefreut, wenn er Sie gehört hätte, Herr Kommissar«, lächelte sie unter Tränen. »Er sagte immer, Pflanzen bringen weit mehr fertig, als wir ahnen.«

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