Die See ist eine blaue Kathedrale

...

Die See ist eine große blaue Kathedrale. In der Krypta wohnt die Tiefseefischin. Hier ist das Wasser nicht durchsichtig und strahlend wie der nächtliche Himmel, sondern dick und körperhaft, eine nachgiebige Wand aus Schwärze. Die Tiefseefischin hat lange, gekrümmte Zähne wie ein urweltlicher Tiger, der in die ewige Dunkelheit hinabgestiegen ist. Um ihren Weg zu finden, trägt sie ein Licht mit sich herum. An einem feinen, fühlerartigen Auswuchs aus ihrer Stirn hängt ein winziger Leuchtkörper und erhellt den Raum vor ihr wie ein Stablämpchen.

Viel sieht sie nicht damit. Nur ein kurzes Stück weit. Manchmal taucht in ihrem Lichtkreis ein Beutefisch auf, taumelt geblendet von der plötzlichen Helligkeit, und sie verschlingt ihn mit einem Haps. Manchmal streift ein zweiter Lichtkreis den ihren, und ein anderer Tiefseefisch schwimmt heran und beglotzt die Fischin mit einem misstrauischen Auge. Doch er ist nicht von ihrer Art und zieht gelangweilt vorbei. Die beiden Lichtkreise berühren einander wie Luftballons, die mit hohlem Blubb zusammenstoßen und sofort wieder auseinander streben.

Die Tiefseefischin durchschwimmt steinige Höhlen, liest die Runenschrift an den Felswänden und leuchtet mit ihrem Lämpchen in schwarze Löcher, die sich dazwischen auftun. Manchmal öffnen sich Schlünde, die so tief sind, dass selbst sie sich nicht hineintraut. Doch instinktiv weiß sie, dass dort nichts lebt außer Bakterien und Würmern. Die zählen nicht.

Vielleicht gibt es jemanden von ihrer Art irgendwo in der schwarzen Wand. Doch wie soll sie ihn finden, wo sie nur ein kurzes Stück weit sehen kann?

Alle paar Wochen wagt sie kurzzeitig den Weg hinauf. Sie wartet den Neumond ab. Trotz des Nachtdunkels fühlt sich das Wasser auf dem Weg nach oben zunehmend heller und luftiger an. Die Tiefseefischin fürchtet sich und strebt in die Tiefe zurück, doch ehe sie sich wieder auf dem Heimweg macht, schlingt und schluckt sie hastig noch mancherlei in sich hinein, denn hier oben ist die Beute dicht gesät.

Aber nie sieht sie einen Fisch ihrer Art.

Eines Nachts versäumt sie die Zeit und sieht zum ersten Mal das Anbrechen des Morgens durch die Wasseroberfläche. Über ihr strahlt alles wie Kristall und vor der leuchtenden Bläue verblasst ihr eigenes Laternchen. Die Tiefseefischin möchte aufsteigen, traut sich aber nicht; ein dumpfer Druck in ihren Eingeweiden warnt sie, sich diesem fernen Strahlen anzuvertrauen. Doch über sich sieht sie das silbrige Funkeln und Zappeln von Hunderten fremdartiger Fische.

Ein einzelner schlanker Fisch zickzackt über ihr umher. Die Tiefseefischin sieht ihn gerade deutlich genug, um zu erkennen, dass er weder zum Fressen ist noch ein Fisch wie sie. Zur Freude geboren scheint er und schlägt übermütige, funkelnde Schleifen. Sekunden später verschwindet er nach oben, wo sich das Gleißen des Morgens immer greller entfaltet. Die Tiefseefischin schwimmt ihm nach. Doch der schmerzhafte Druck in ihr nimmt zu. Ein fremdes Etwas in ihrem Inneren bläst sich auf und droht sie zu sprengen. Sie jammert lautlos. Endlich kehrt sie um.

In zweitausend Metern Tiefe ruht sie am Boden aus. Ihr Lämpchen entzündet sich wieder und bildet eine kleine Insel in der Dunkelheit.

Cora auf Reisen
Das Tierasyl
Das Zappelkaninchen
Der Meermann
Die See ist eine blaue Kathedrale
Erste Häutung (Romankapitel)
Fluchtpunkt
Goth und das Ungeheuer
Hummeln und Spinnen
Mann mit Hund
Netta tritt auf (Romankapitel)
Pusteblume - Hasensprung
Schafskrimi (Leseprobe)
Was das Kaninchen erzählt
Wie ich zweistimmig wurde
Wortgesang
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren