Das Tierasyl

...

I.

Es gibt so viele verschiedene Arten von Dummheit, und die Gescheitheit ist nicht die beste davon ...

Er sagte es vor sich hin, erst in Gedanken, dann halblaut. Endlich schüttelte er lachend den Kopf. »Hey, hör dir das an«, rief er. Da keine Antwort kam, schob er einen Finger als Lesezeichen in das Buch und stand auf, um durch die schmale Tür zu schauen. »Mona, bist du da?«

Stille. Er ging die drei Schritte aus seinem Schlafraum in die kombinierte Wohn-Essküche. Der Wohnwagen war lang und schmal gebaut; ihm war, als zwängte er sich durch einen Schlauch. Bis auf eine zerfledderte Zeitung auf der Eckbank war alles tadellos aufgeräumt. Von Mona keine Spur.

»Mona? Mona!«

Er schaute durch die geöffnete Tür auf den Vorplatz. Die vier Plastikstühle rund um den weißen Tisch waren leer. Sein blauer Golf stand mit der Schnauze in der Ligusterhecke, die die Wohnwagenparzelle abschloss. Mona konnte nicht weit sein. Gleich darauf sah er sie: Sie kniete vorn an der Hecke, beinahe schon im Nachbarstellplatz, und kraulte einen wuscheligen kleinen Hund, der im Schatten lag.

Wie kam der Hund her? Hier waren doch Hunde verboten. Bevor er den Wohnwagen mietete, hatte er sich genau informiert: Hundegebell ging ihm von jeher auf den Geist. Joachim legte das Buch weg und kehrte in sein Kabuff zurück. Seine Fachbücher und Notizzettel lagen auf der unteren Etage des schmalen Stockbetts verstreut. Das Notebook stand aufgeklappt auf dem kleinen Tisch unter dem Fenster. Summend pustete es heiße Luft in den winzigen Raum.

Bis gestern hatte er die ersten vier Kapitel seines Aufsatzes einmal durchgesehen, seit heute morgen schrieb er das fünfte. »Die radikalen Mitglieder unserer Gesellschaft«, stand auf dem Bildschirm, »begrüßen außerirdische Besucher, die sie als Exilanten ansehen. Damit legitimieren sie ihre eigene Existenz am Rand der Gesellschaft ...«

Am Ende der Zeile blinkte auffordernd der Cursor.

»Hast du mich gerufen? Was gibt’s?«

Joachim drehte sich um. Mona war hereingekommen und stand im Küchenbereich. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, weil sie das Licht im Rücken hatte.

»Ich wollte dir was vorlesen«, sagte er geistesabwesend.

»Was denn?«

»Weiß nicht mehr.« Seine Rechte schloss sich um die Maus, die sich angenehm der Handform anpasste. Er betrachtete den Text auf dem Bildschirm und rollte ihn zwei Absätze zurück.

Mona setzte sich auf die Eckbank und begann die Zeitung zusammenzuklauben. »Unsere Nachbarn haben neuerdings einen Hund. Henry heißt er. Schon gesehen?«

»Ich dachte, hier sind Hunde verboten.«

»Man hat eine Ausnahme gemacht, weil der Hund aus dem Tierheim ist. Morgen reisen sie ohnehin ab. Der Hund ist wirklich süß und überhaupt nicht verstört. Wie ein richtiger Familienhund.«

Joachim kehrte ans Ende seines Textes zurück und schrieb: »Die Hoffnung, dass etwas Komplexes dahinterliegt ...« Dann nahm er wieder die Hände von den Tasten. »Warum sollte der Hund verstört sein?«

»Weil er ausgesetzt war. Sie haben ihn aus dem Tierheim.«

»Aus welchem Tierheim denn?«

»Dem hier gleich nebenan. Sag mal, weißt du nicht, dass im Wald ein Tierheim ist? Du hast wirklich den Kopf in den Wolken.«

»Ich laufe nicht im Wald herum, das weißt du doch. Ich muss schreiben, am Monatsende ist Ablieferungstermin und ich habe …«

»Du brauchst nicht gleich sauer zu werden. Es ist gar nicht weit von hier, na ja, eine halbe Stunde Fußmarsch vielleicht …« Mona verstummte plötzlich, als sei sie nicht mehr sicher, wo das Tierheim war. Joachim sagte nichts. Diskussionen über etwas, was im Wald zu sehen gab, endeten regelmäßig mit Monas Aufforderung, ihre Joggingrunden mitzumachen. Dazu hatte er keine Lust mehr.

»Die Hoffnung, dass etwas Komplexes dahinterliegt ...« Er hatte die Finger schon wieder auf der Tastatur, als blitzartig etwas in seinem Kopf auftauchte – das Bild einer Ansammlung von Wellblechhütten und Vierecken aus Zaundraht, wie ein Behelfsquartier für Obdachlose. Am Zaun hingen Schilder mit Hilferufen in mehreren Sprachen: Bitte helfen Sie uns mit einer Spende.

Seltsam, seine Vorstellung von dem Ort war verschwommen, das Bild vor seinem inneren Auge gleichsam an den Rändern ausgefranst – doch die Atmosphäre von Bedrückung und Armut war überdeutlich.

»Ich fahre nachher noch mal weg«, sagte Mona. »Im Dorf ist dieses Wochenende Sommerfest. Das soll schön sein, mit Live-Musik ... Das Auto brauch ich nicht, ich werde mir ein Fahrrad mieten bis morgen früh. Dann kann ich auch mal ein, zwei Bier trinken, weißt du.«

Wieso baute man ein Tierheim im Wald? Rundum sah er Birken mit funkelndem Laub und eine Hecke. Doch woher wusste er das, wo er das Tierheim nie gesehen hatte?

Hatte sie Fahrrad gesagt?

»Du willst doch nicht etwa nachts allein durch die Gegend radeln?«

Mona lachte. »Hast du Angst um mich?«

Es kam ihm nicht zu, ihr Vorschriften zu machen. Mona war weder seine Frau noch seine Freundin und konnte tun, was sie wollte. Er schwieg und betastete mit nervösen Fingern die Maus.

»Ich komme auf jeden Fall heute Nacht noch zurück«, sagte sie versöhnlich.
»Wahrscheinlich so um Mitternacht herum. Du schreibst ja sowieso ohne Pause bis in die Puppen; wenn du so lange aufbleibst, trinken wir noch was zusammen.« Sie sprach freundlich, doch er fühlte ihren Spott. »Mach dir keine Gedanken, ich komme schon klar«, murmelte er.

»Das glaub ich eher nicht. Wenn ich nicht da bin, dann vergisst du doch Essen, Trinken und Schlafen, Joachim. Du sitzt nur vor dem Notebook, bis du viereckige Augen hast.«

»Kann sein.« Er versuchte mitzulachen. »Aber du musst zugeben, dass du auch kein schlechtes Geschäft dabei machst. Schließlich zahle ich alles hier. Die Wohnwagenmiete, das Auto …«

»Hu-hu.« Sie hob die rechte Hand und rieb mit spöttischer Miene die Finger gegeneinander. »Mr. Rich spricht. Na gut. Du bist zum Arbeiten hergekommen, ich zum Ausspannen. Und deshalb gehe ich auf das Dorffest. Wenn du bis Mitternacht weitertippst, sehen wir uns wieder; wenn nicht, dann halt morgen früh. Dann mache ich dir ein fürstliches Frühstück. Um meinen Teil der Abmachung einzuhalten.«

Er wusste nichts zu antworten. Sie hatte ja recht. Er legte die Hände wieder auf die Tasten, um zu schreiben: »Wir scheinen zu wissen, dass wir in einer Sinnkrise und gleichzeitigen moralischen Krise stecken, und wir sind bereit, eine Menge zu riskieren, wenn wir …« Etwas schob sich zwischen ihn und den Text. Es war das Tierheim. Bitte helfen Sie uns mit einer Spende.

Mona begann im gleichen Augenblick verhalten: »Dieses Tierheim haben sie bestimmt deshalb in den Wald gebaut, weil die Hunde so laut sind. Verlassene Hunde bellen ständig.«

Er wandte sich um und betrachtete ihren kurzen, dunkel glänzenden Haarschopf, die gebräunten Schultern unter dem ärmellosen Top, die grünen, goldgesprenkelten Augen. Wenn sie ihn scharf ansah, fühlte er sich immer unangenehm auf dem Prüfstand.

»Wir können ja mal hingehen und eine Spende einzahlen«, schlug er vor und formulierte in Gedanken weiter: wenn ich mit diesem Artikel fertig bin, was Unsinn war, denn in den zwei verbleibenden Urlaubswochen würde er diesen Riesenaufsatz nicht fertig stellen können. Trotzdem hatte er sich angewöhnt, diesen Nebensatz an alles anzuhängen, was er seit langem aufschob: zum Friseur gehen, mehr für die Gesundheit tun, seine Wohnung mal wieder gründlich putzen, wenn ich mit dem Artikel fertig bin.

»Also wenn du Rad fährst, dann sei vorsichtig«, sagte er mühsam. »Und die Bäume …«, er brach ab, unfähig, den Gedanken zu Ende zu führen.

Nebenan bellte der Hund.



Es gelang ihm, drei Stunden an der Arbeit zu bleiben. Das winzige Wohnwagenfenster über seinem behelfsmäßigen Arbeitstisch war angekippt, und wenn er hochschaute, sah er eine weitere Ligusterhecke – die hinter dem Wohnwagen – und die anschließende Parzelle mit einem kleinen, alten Caravan. Dort wohnte eine Frau, etwa Mitte Vierzig, klein und rund und mit einer Wolke krausen Haares. Wenn sie zum Sonnenbaden herauskam, trug sie meistens einen pinkfarbenen Babydoll, der einfach peinlich aussah. Sie saß fast jeden Tag im Liegestuhl, las Zeitschriften und futterte Schokoladenkekse – vermutlich frustriert, diagnostizierte Joachim und vergaß sie sofort wieder.

Hinter der Parzelle, in der die Fremde wohnte, begann der Wald, und über diesen Wald dachte er nicht gern nach. Vom Campingplatz aus sah man hauptsächlich lichte Buchen mit samtartiger Rinde. In den Morgenstunden hüpften Eichhörnchen im Geäst herum. Das wirkte freundlich. Doch hinter dem Rahmen aus harmlosen Bäumen verbarg sich abweisender Wildwuchs. In den ersten Tagen ihres Aufenthalts hatte er ein paarmal Monas Waldläufe mitgemacht. Es war eine Katastrophe. Hier gab es keine gepflegten, mit Kies oder Sand bestreuten Fußwege wie zu Hause, sondern nur Trampelpfade. Manchmal verlief sich die Schneise im Nichts, man kämpfte sich noch zehn Meter weit durch bösartiges Brombeergebüsch und machte sich endlich gedemütigt auf den Rückweg. Es gab Gruppenpflanzungen niedriger Tannen und Fichten, die so dicht standen, dass die Äste sich ineinander verhakten, und uralte Kastanienhaine, in denen jedes Geräusch einen gespenstischen Nachhall hervorrief. Umgestürzte Stämme mussten überklettert werden, tückische Zweige schnellten einem plötzlich ins Gesicht. Bei ihrem dritten gemeinsamen Lauf hatte er sich den Knöchel verknackst. Von da an ließ er Mona allein losziehen.

»Warum pflegen die ihren Wald nicht ein bisschen?«, hatte er empört gefragt. »Wenn im Prospekt steht, der Campingplatz grenzt an einen Wald, dann erwarte ich einen begehbaren Wald. Das hier ist eine Mischung aus Amazonasdschungel und Tunguska!«

»Ach Joachim«, hatte Mona gelacht, »man ist hier halt nicht so ordentlich wie zu Hause in Deutschland! Wozu gehst du überhaupt auf Reisen?«

»Das ist mir jedenfalls zu mühsam«, erwiderte er. »Lauf du mal ruhig allein. Ich brauche meine Kraft zum Schreiben. Dazu bin ich nämlich hergekommen.«

Von da an blieb er also im Wohnwagen und schrieb an seinem Artikel, und Mona verschwand stundenlang. Für seine Arbeit interessierte sie sich kaum. Er hatte ihr natürlich erklärt, worum es ging, aber sie las nur Romane.

Joachim schrieb, bis die Dämmerung hereinbrach. Um weiterzuarbeiten, hätte er Licht machen müssen, und das verbot sich von selbst, weil dann massenweise Motten durch das Fenster kamen. Er schaltete den Computer auf Standby und stieg die zwei Stufen aus dem Wohnwagen hinunter. Am Himmel hing ein blasser Dreiviertelmond. Mona war sicher längst zu ihrem Dorffest aufgebrochen; es musste nach neun Uhr sein. Sonst war sie um diese Zeit immer da, aß mit ihm Abendbrot, und meistens tranken sie zusammen noch ein paar Gläser Wein. Das war die schönste Zeit des Tages – die Arbeit war unterbrochen, ein weiterer Tag Arbeit stand bevor, und Mona saß in ihrem Plastikstuhl, den Kopf in den Nacken gelegt, erzählte Geschichten über andere Camper, die sie kennen gelernt hatte oder schwieg einfach und schaute zu den Sternen hinauf.

Der Wald drängte sich an die Nachbarparzelle und hauchte ihm kalte Nachtluft entgegen. Die vorderen Bäume waren klar zu erkennen; die Stämme schimmerten silbern im Mondlicht. Doch gleich dahinter war Schwärze. »Nichts ist so schwarz wie ein dichter Wald bei Nacht«, dachte er und lachte kurz, weil ihm das Zitat über die Gescheitheit wieder in den Sinn kam. Jetzt hätte er sich gern ein wenig mit der ältlichen Nachbarin unterhalten, doch in ihrem Wohnwagen brannte kein Licht. Das ganze Camp lag im Dunkeln. Der kleine Hund ließ sich nicht mehr hören.

»Na, dann eben nicht«, sagte Joachim laut zu sich selbst und schrieb den Abend als verloren ab. Er ging in den Caravan zurück und machte sich zwei belegte Brote zum Abendessen. Die Stille fiel ihm auf die Nerven, und so schaltete er den winzigen Fernseher ein, der über der Eckbank an einem Deckenregal hing. Es gab einen Horrorfilm mit vielen Gräbern.

Immer wenn der Apparat eine Weile ruhig war und ihn nur mit stillen blauen Bildern überschwemmte, hörte Joachim Motten gegen das Fenster fliegen. Tock tock tock, klopfte es leise.

Erst nach Mitternacht fand er ins Bett. Die Nachtstille war vollkommen; es war so still, dass ihm die Ohren rauschten. Wieder kamen ihm die weißen Schilder in den Sinn. Tierheim, bitte helfen Sie uns. Please help us. Gelieve te helpen ons. Veuillez nous aider. Etwas in diesem flehentlichen Appell zwickte sein Gewissen, als hätte er etwas weit Schlimmeres getan, als nur daran vorbeizugehen. Und dabei war er gar nicht vorbeigegangen. Er hatte die Schilder nie gesehen. Nicht soweit er sich erinnerte.



Vogelgezwitscher weckte ihn. Jeden Morgen fand sich eine ganze Horde Spatzen in der Nachbarparzelle zusammen, um die Brötchenkrümel vom Frühstück einzuheimsen. Gegen neun Uhr lag die Parzelle verlassen, der Sonnenschirm war zugeklappt, die Plastikstühle lehnten gegen den Tisch gekippt. Die Nachbarn mit dem kleinen Hund waren abgereist.

Nun war niemand mehr da, nur noch die Frau mit dem Babydoll und den Schokoladenkeksen. Die nächsten Nachbarn wohnten drei Parzellen weiter und ließen sich kaum blicken. Natürlich gab es noch Mona. Doch wo war sie? Mona hatte das zweite Schlafzimmer belegt, das mit dem Doppelbett. Die Tür stand offen. Der Schlafsack lag zusammengerollt auf der Matratze, darüber geworfen ein langer blauer Rock mit Schlitz.
War sie schon so früh aufgestanden und weggegangen? Aber warum lag dieser lange Rock da? Tagsüber ging Mona doch immer in Hosen. Joachim starrte müde auf das unordentliche Bett, und dann ging ihm die Bedeutung des Rocks auf: Sie hatte ihn am Abend zum Fest tragen wollen. Ihn anprobiert, wieder ausgezogen und aufs Bett geworfen. Wahrscheinlich, weil er zu unbequem zum Radfahren war. Das bedeutete, dass sie seit gestern abend nicht mehr hier gewesen war. Sie hatte auswärts geschlafen.
Er nahm sein Handy und wählte Monas Nummer – nur die Mailbox meldete sich.
Joachim verbot sich weiteres Nachdenken, machte sich eine Tasse Pulverkaffee zurecht und stellte den Computer an. Wahrscheinlich hatte sie auf dem Fest jemanden kennen gelernt und bei ihm übernachtet. Das ging ihn nichts an. Mona war nicht seine Freundin. Nur eine Bekanntschaft, die ihn auf dieser Reise begleitete und einen Teil der Unkosten übernahm. Den eher kleineren Teil, sagte er sich grimmig.

Die Morgensonne schien durch das kleine Fenster seines Schlafraums. Er öffnete es weit und begann, die Arbeit von gestern zu prüfen.

»Die UFOs«, las er auf dem Bildschirm, »sind nichts anderes als Abwandlungen religiöser Visionen, die unser Bedürfnis nach Erleichterung in einer entfremdeten Umwelt stillen sollen. Umgekehrt gründet sich unsere ganze Religion auf Besuche aus dem All.« Fabelhaft. Gestern Nachmittag war er wirklich vorangekommen. Ohne richtig zu frühstücken, setzte er sich vor den Rechner, um seinen Gedankengang fortzuführen. Er tippte wie besessen drauflos. Gegen zehn Uhr kam die Nachbarin nach draußen und legte sich mit einem ganzen Zeitschriftenstapel in ihren Liegestuhl. Ihre Gegenwart tat Joachim wohl, obgleich er hinter seinem Fensterchen unsichtbar blieb, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden.

»Aus dem technologischen Dschungel, in dem wir uns verloren haben, projizieren wir nun unsere Enttäuschung nach draußen, in einer Weise, die zu unserem Begriff eines technologischen Universums passt …«

Er musste lange Zeit geschrieben haben, die Sonne stand schon beinahe senkrecht. Der Liegestuhl der Nachbarin war verlassen. Zweifellos war ihr zu heiß geworden. Joachim starrte auf die zuletzt geschriebenen Zeilen und hatte plötzlich das Gefühl, selbst kein Wort von dem zu verstehen, was er da von sich gegeben hatte. »Und wenn es sie nicht gibt …«, tippte er, stockte und löschte den Satz. »Und wenn es sie nicht geben sollte, besteht kein Grund, dass sie nicht irgendwann doch noch kommen …« Sein Kopf summte. Er schloss die Augen und gähnte eine kurze Auszeit. Als er den Bildschirm wieder anschaute, stand da: »… viele verschiedene Arten von Dummheit, und die Gescheitheit ist nicht die beste …«

So konnte er nicht weiterarbeiten. Es war Mittag, und ihm war schwindlig vor Hunger. Er ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Wenn Mona nicht bald kam, musste er selbst einkaufen gehen. Er empfand eine stumpfsinnige Gereiztheit und schalt mit sich selbst. Das war unvernünftig. Mona hatte ihn fast zwei Wochen lang bekocht; es war ihr gutes Recht, auch mal wegzubleiben. Er machte sich ein Rührei mit Brot und konnte das Salz nicht finden. Das Ei war so geschmacklos wie feuchte Watte.

Die Sonne strahlte vom beinahe wolkenlosen Himmel. Gleich nach dem Essen an den Rechner zurückzukehren, war unmöglich. Er rückte draußen einen Liegestuhl unter den Sonnenschirm und legte sich hin. Sofort fielen ihm die Augen zu.

Als er wieder aufwachte, war es nach drei Uhr, und sein Mund war trocken und pelzig vom Schlaf. Minutenlang ruhte sein Blick auf einem Hortensienstrauch an der Ligusterhecke. Die kugeligen Blüten kamen ihm unnatürlich vor wie Plastikblumen. Er setzte sich auf. Durch die offene Wohnwagentür erkannte er eine Ecke der Spüle und darauf den Teller, von dem er das Rührei gegessen hatte. Angst überwältigte ihn. Die Welt war tot – er allein hatte überlebt. Über die Nachbarhecken hinweg drang der Wald auf ihn ein.

Mühsam hievte er sich aus dem Liegestuhl und stieg die zwei Stufen in den Wohnwagen, um ein Glas Wasser zu trinken. In Gedanken versuchte er, eine Einkaufsliste zu machen. Wein, frisches Brot, Salz. Noch einmal griff er zum Handy – wieder die Mailbox.

Es musste sein. Er machte sich notdürftig für einen Besuch in der Zivilisation zurecht: Hemd wechseln, kämmen, mit dem Rasierer über das Kinn fahren. Es gab einen Laden am Eingang des Camps, den er zu Fuß in zehn Minuten erreichen konnte. Einen Augenblick stand er unschlüssig, den Türriegel schon in der Hand. Der Rechner. Er kehrte in sein Kabuff zurück und schaltete das Notebook ab. Einkaufen. Wie ätzend. Sein Blick fiel auf das Fenster, er sah die Parzelle der Nachbarin und die Buchenstämme dahinter, die im grellen Nachmittagslicht nicht mehr silbern wirkten, sondern einfach grün. Ich gehe sie suchen, dachte er plötzlich und lächelte über sich selbst, weil der Gedanke so unsinnig war. Der Wald war riesig und er kannte sich nicht aus. Aber wenn ich in den Wald gehe, wird sie nach Hause kommen. Entweder finde ich sie, oder sie kommt von selbst zurück. Ich muss nur hinein.

Er schloss den Wohnwagen hinter sich ab und umrundete die Hecke. Was für ein Blödsinn, was er da tat. Absichtlich trampelte er durch die Parzelle der Nachbarin. Wenn sie jetzt herauskommt und irgendwas ruft, gehe ich zu ihr und fange ein Gespräch an. Doch es blieb still. Er sah einen breiten, bequemen Weg vor sich, der in den Buchenhain hineinführte, mit Sand bestreut und so glatt, als sei er gerecht worden.

Der Weg stieg in sanften Schlangenlinien bergauf. Unter den Buchen wuchsen ganze Büschel von Waldglockenblumen, die ihm zunickten. Die Bäume rückten näher, während er dahinspazierte. Nach einer Weile blieb Joachim stehen und schaute sich um. Bisher hatte er keine Abzweigung gesehen; es schien unmöglich, sich zu verlaufen. Überdies war von vorne jetzt etwas zu hören – es klang wie Glockenläuten. Bestimmt lag der nächste Ort ganz nah. So schlimm war der Wald gar nicht. Vielleicht begegne ich Mona. Der Weg war schmäler geworden, aber noch geeignet zum Radeln. Jetzt hatte er zur Rechten eine dieser Nadelwaldschonungen, die unsinnig dicht gepflanzt war. Es ging immer noch bergauf, der Weg stürzte förmlich zwischen die ineinander gewucherten Bäumchen. Die Luft war abgekühlt und wunderbar frisch. Joachim schlug einen leichten Trab an.

Er war schon eine ganze Weile gerannt, als er merkte, dass sich die Bäume abermals verändert hatten; was er jetzt sah, waren knorrige, dicht beisammen stehende Hainbuchen, überragt von Eichen, die ihm schwindelnd hoch vorkamen. Diese Bäume mussten uralt sein. Vom Himmel war kaum noch etwas zu sehen; nur vereinzelt fielen Lichtbündel auf den Waldboden wie Theaterscheinwerfer. Hoch über ihm deutete ein fernes Flirren und Zwitschern die Existenz einer zweiten, lichtdurchfluteten Welt an. Das Glockenläuten schien näher gekommen.

Dicht neben ihm flatterte etwas und stieg mit lauten Flügelschlägen auf, und sekundenlang herrschte tiefe Stille – sogar das Läuten verstummte, als halte die Welt vor Schreck den Atem an. Dann bellte ein Hund, und plötzlich wurde Joachim klar, dass es das war, was er schon die ganze Zeit hörte: nicht Läuten, sondern Hundegebell. Eine ganze Meute bellte. Verdammt, wurde hier etwa auch noch gejagt? Er hatte keine Ahnung, wann Jagdsaison war. Der Weg zog sich jetzt, kaum noch erkennbar, durch wucherndes Gestrüpp. Es waren Tollkirschensträucher, soweit er erkennen konnte. Die Bäume schienen zurückzuweichen, und mit einem Mal hatte Joachim einen Drahtzaun vor sich – beinahe wäre er hineingerannt, und auf der anderen Seite des Zauns fuhr ein winziger Hund auf ihn los und kläffte ihn in schrillem Diskant an.

»Na, na!«, sagte Joachim mit nervösem Lachen. »Beruhige dich mal!« Das musste das Tierheim sein. Also war er an der Straße! Es musste einfach eine Straße geben, wahrscheinlich auf der anderen Seite. Wo die Bettelschilder hingen. Von hier aus würde er leicht zurückfinden – einfach auf die Straße hinaus, linksherum und in weitem Bogen wieder zum Camp. Das Tierheim sah schäbig aus; ein Komplex zusammengewürfelter Hütten und Schuppen. Und wo waren die Birken? Da mussten doch junge Birken rundherum stehen. Vermutlich sah es von der Straße her anders aus. Freundlicher.
Und woher wusste er, dass Birken dazu gehörten? Und die Schilder? Und dass auf der anderen Seite eine Straße war?

Als er aus der Tollkirschenhecke heraustrat, fiel die Sonne mit Macht über ihn her wie am helllichten Mittag. Das konnte doch nicht sein. Er war ja erst nach drei Uhr losgegangen. Und seine Knie zitterten vor Erschöpfung, als sei er stundenlang gerannt.
Schlimmer als die Sonne aber war das Hundegebell. Es hämmerte vielstimmig in seine Ohren, die Luft vibrierte davon. Die Reihe winziger Zwinger – jeder ungefähr so groß wie sein Arbeitsraum im Wohnwagen – war schier endlos, und in jedem kläffte ihn ein Hund an; manche kaum größer als Katzen und mit eingedrückten, faltigen Gesichtern wie Neugeborene, andere über einen Meter hoch, mit sonoren Stimmen. Das Tollkirschengebüsch wuchs so nah an die Zwinger heran, dass er dicht an den Hunden vorbeigehen musste, und ausnahmslos alle bellten wie besessen, zeigten Reißzähne und heraushängende Zungen, hüpften vor Aufregung oder stemmten sich gegen den Maschendraht, dass er sich gefährlich nach außen beulte … Fast schon in Panik erreichte Joachim die Ecke des Gebäudes und rannte beinahe in eine Frau in blauem Overall hinein.

»Oh, sorry …«, brachte er heraus und wischte sich die Stirn. Die Frau schaute zu ihm auf – sie reichte ihm gerade bis zur Schulter – und lächelte freundlich mit schiefen, etwas verfärbten Zähnen. Sie war ungefähr sechzig, hatte ein rundes, faltiges Gesicht und eine Masse kurz geschnittenen grauen Haars, das sich sträubte wie bei einem Wiedehopf.
»Want to have a look?«, fragte sie so selbstverständlich wie eine Verkäuferin in einer Boutique.

Sollte er ihr etwa einen Hund abnehmen? Mühsam suchte er ein paar Worte zusammen: »Sorry, I can’t look after a dog.« Sie sah ihn fragend an. Er erläuterte hastig: »No time … much business …«

»Perhaps a small one? A little pet?« Sie hatte ihn bereits am Ellbogen gepackt – mit überraschend festem Griff für so eine Zwergin – und steuerte ihn zurück zu der Ecke, um die er gekommen war. Joachim steckte die freie Linke in die Hosentasche und suchte nach Geld. Da er keines fand, durchsuchte er mit der Linken auch die rechte Hosentasche, wofür er sich ziemlich verrenken musste. Wenn er ihr eine Spende gab, würde sie ihn loslassen müssen. »Wir haben auch Kleintiere«, bemerkte die Zwergin in fast akzentfreiem Deutsch, »Sie können auch ein Meerschweinchen oder Kaninchen haben«, und als er sie überrascht anstarrte: »Sie sind doch Deutscher, oder?«

»Yes.« Inzwischen hatte er in der Gesäßtasche etwas loses Geld gefunden – sogar ein Schein war dabei, wie er tastend feststellte. Er krampfte die Hand darum und trat von einem Bein aufs andere, während die Frau weiterredete. Wenigstens hatte sie ihn losgelassen. »Wir haben hier gut zwei Dutzend Hunde, mindestens genauso viele Katzen und dann noch Kleintiere, und jedes Jahr werden es mehr. Die Leute haben immer weniger Verantwortungsgefühl. Wir müssen uns ständig um neue Tiere kümmern. Und es kommt so selten jemand her, der uns eines abnimmt.« Sie zeigte auf den ersten Käfig, gleich an der Ecke. »Der da ist sicher zu groß für Sie. Den will keiner haben. Er ist schon über ein Jahr bei mir.« Der Hund war riesig, mit kurzem Fell von heller Cremefarbe. Vorhin, als Joachim das erste Mal an den Zwingern entlangging, hatte er mit wütender Bassstimme gebellt; jetzt stand er still und aufmerksam am Zaun und sah Joachim ins Gesicht. Sein Blick war kritisch und abwägend, als sei er es, der eine Wahl zu treffen hatte, und nicht Joachim.

»Viel zu groß, nicht wahr?«, bemerkte die Zwergin spöttisch, als sei er einem solchen Tier nicht gewachsen. »Ich zeige Ihnen einen kleineren.« Joachim wollte erneut protestieren, da stand er schon vor dem nächsten Zwinger. Es waren zwei weiße Pudel darin. Sie saßen brav nebeneinander auf ihren Hinterteilen wie Dressurhunde. Ihre Augen waren blau – Augen, wie Hunde sie sonst nicht haben. Sie musterten ihn interessiert und steckten plötzlich die wuscheligen Köpfe zusammen wie Kinder, die miteinander tuscheln.

Der Schweiß brach ihm aus. Er klammerte sich an dem Kleingeld in seiner Hosentasche fest.

»Die müssten Sie aber alle beide nehmen«, erläuterte die Frau. »Sie wollen nicht getrennt werden, verstehen Sie. Ich kann mir schon denken, dass das zu schwierig für Sie ist. Schauen Sie hier – …« Im nächsten Zwinger saß ein winziger Hund mit einem Kindergesicht, der die Zunge herausstreckte, als Joachim an den Zaun trat; dann folgte ein Stall mit einem breitbrüstigen Terrier, der Kratznarben im Gesicht hatte – dicht an seiner Schulter saß eine ebenso kräftige und narbenbedeckte Katze. Sie starrten Joachim finster an und drehten ihm sofort den Rücken. »Ach, auch zu schwierig«, bemerkte die Zwergin munter. »Das wird nicht einfach mit Ihnen. Aber wir finden schon das Richtige.«

»Ich will keinen Hund«, sagte Joachim laut. »Hören Sie, ich bin berufstätig und viel auf Reisen. Ich kann einfach keinen Hund halten, aber ich bin bereit, etwas für die Tiere zu spenden!« Er brach ab, weil er jetzt vor einem Stall mit einem jungen Jagdhund stand. Der Hund, schlappohrig und mit kurzem, dunkel glänzendem Fell, kam sofort an den Zaun, als er Joachim sah, und wedelte mit dem Schwanz.

»Die mag Sie!«, verkündete die Zwergin triumphierend. »Es ist eine Brackenhündin, sehr lieb. Und erst seit gestern hier. Das macht es einfacher. Verstehen Sie, wenn die Tiere lange im Heim sind, werden sie neurotisch und stellen sich an. Das ist leider unvermeidbar ... Diese hier ist garantiert unschuldig.« Sie gab Joachim einen neckischen Klaps auf den Arm.

Die Hündin erwiderte seinen Blick aus Menschenaugen – feurig grünen, goldgesprenkelten Augen. Joachim beugte sich vor und näherte sein Gesicht dem des Tieres. Etwas zog sich um ihn zusammen und bildete eine eiskalte Aura um seinen Körper. Die Hündin wich plötzlich zurück und legte sich im Hintergrund des Käfigs auf den Boden.

Das Kältegefühl wich mit einem Schlag, und wieder brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Joachim stolperte rückwärts und zog die Hand mit dem Geld aus der Tasche. Ein paar Münzen rollten auf den Boden. Er fühlte sich gedemütigt, als habe er einer Prüfung nicht standgehalten.

»Nehmen Sie bitte«, stieß er hervor. »Ich will keinen Hund. Ich kann nicht für einen Hund sorgen.« Die Frau war so klein – er musste sich bücken, um ihre Hand zu erwischen, die klein und runzlig war wie bei einer Greisin. Er packte sie und stopfte das Geld hinein.

»Oh, das ist sehr großzügig von Ihnen!« Sie bückte sich nach den Münzen. Joachim nutzte die Gelegenheit. »Ich muss los. Bye!« Ohne auf ihre Antwort zu warten, stürzte er sich in die Tollkirschenhecke. »Thank you so much for your generous donation!«, rief die Zwergin ihm nach. »This makes a big difference in the life of our four-legged friends!« Es klang wie ein Satz, den sie für solche Gelegenheiten auswendig gelernt hatte.

Wie auf ein Signal fingen sämtliche Hunde wieder an zu bellen. Sekundenlang klammerten sich die Tollkirschensträucher an Joachim fest, er schlug um sich – dann fiel er hinaus auf den Waldweg, als hätte die Hecke ihn ausgespien. Ein ganzer Hundechor verfolgte ihn, während er davonrannte, immer wieder stolpernd und sich in Grasbüscheln verheddernd. Jetzt brach binnen Minuten die Dämmerung herein; der Weg war kaum noch zu erkennen, und Joachim prallte mehrmals gegen riesige schwarze Steinbrocken, die – fast so hoch wie er selbst – von ganz allein in den Weg gekollert schienen. Beim dritten Mal ritzte er sich die Schienbeine blutig und konnte die Tränen kaum noch zurückhalten. Der Rückweg, wenn auch bergab, war wie einer jener Alpträume, in denen man verzweifelt dahinrennt und doch kaum von der Stelle kommt. Rundherum dröhnten und knarzten die Bäume, und selbst die Luft schien dick und zähflüssig geworden, so dass er im Laufen mit den Armen ruderte wie ein Schwimmer. Hinter seinem Rücken wandelte sich das andauernde Hundegebell wieder zu Glockenläuten.



II.

»Entschuldigen Sie bitte …könnten Sie mir wohl etwas Salz leihen?«

Er stand an der Ligusterhecke zwischen unseren Stellplätzen, in einem scheußlichen olivgrünen Military-Hemd und einer fleckigen Anglerweste darüber. Es war die gleiche Kluft, die er immer trug, seit er in dem Caravan neben mir wohnte. Über zwei Wochen waren das zu diesem Zeitpunkt, und noch nie hatte er ein Wort mit mir geredet.

Seine Freundin hatte mich immer nett gegrüßt. Ein- oder zweimal täglich kam sie auch zu einem Schwatz an die Hecke, und dabei hatte sie mir erzählt, dass Joachim, wie sie sich ausdrückte, »nicht ganz von dieser Welt« sei: Er schreibe den ganzen Tag an irgendwelchem esoterischen Zeug und brächte es kaum fertig, sich selbst ein Brot zu schmieren. Sie kannte ihn selbst erst seit kurzem. Er hatte per Anzeige eine Reisebegleiterin gesucht, die mit ihm den Caravan und die Kosten teilte. Es lief darauf hinaus, dass sie für Einkaufen, Kochen und alles andere sorgte, und dafür bezahlte er die komplette Stellplatzmiete.

Joachim sah zerknittert und übernächtigt aus, und sein sandfarbenes Haar stand in alle Richtungen vom Kopf ab. Ich gab ihm das Salzfass und fragte: »Kann ich Ihnen sonst noch etwas anbieten? Möchten Sie ein paar Schokoladenkekse? Die sind lecker.«

»Ich brauche nichts«, gab er mannhaft zurück und kehrte mir schon den Rücken. Ich rief ihm nach: »Ist Mona nicht da?«

Er ging noch drei Schritte, als hätte er mich nicht gehört. Doch dann drehte er sich heftig um. »Mona ist weg. Sie ist einfach verschwunden. Seit Freitagabend! Drei Tage schon! Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Ich war im nächsten Dorf bei der Polizei und wollte sie als vermisst melden. Die haben mich gar nicht ernst genommen, ich hab genau gesehen, wie sie einander zugrinsten. Keine Anzeichen für ein Verbrechen – kein Grund, etwas zu unternehmen. Sie hätte sich wohl einen anderen Freund gesucht. So ein Quatsch! Darum geht es doch gar nicht! Die verstehen rein überhaupt nichts!«

Ich verstand auch nichts. »Mona ist seit Freitag weg? Was soll das heißen? Hat sie denn ihr Gepäck mitgenommen?«

»Ach was. Sie wollte nur zu einem Fest fahren. Hat sie jedenfalls gesagt.« Und dann legte er los und sprudelte die ganze Geschichte hervor; der Wald, das Dorffest, das Fahrrad, der Wald, das Tierheim und wieder der Wald. Ich brachte ihn dazu, über die Hecke zu steigen und sich an meinen Tisch unter den Schirm zu setzen. Er war völlig durch den Wind. Der Schweiß rann ihm die Schläfen hinab.

»Das klärt sich bestimmt alles auf«, redete ich auf ihn ein. »Haben Sie versucht, sie anzurufen? Sie hat doch sicher ein Handy?«

»Ja klar. Das war das Erste, was ich probiert hab.« Er schien richtig stolz darauf. »Da meldet sich immer nur die Mailbox.«

»Und der Fahrradverleih? Haben Sie sich erkundigt, ob ein Rad fehlt?«

»Dort kann sich niemand an Mona erinnern. Sie hat am Freitag ein Fahrrad gemietet, das Formular mit ihrem Namen lag da, aber das Rad wurde am Samstag zurückgegeben. Von ihr oder jemand anderem. Das ließ sich nicht mehr feststellen.« Er fügte entmutigt hinzu: »Ich hab sie gesucht. Aber das führt alles ins Leere.«

Er hätte sie gesucht – das klang merkwürdig. Ich fragte nach: »Hat Mona denn noch mehr Bekannte hier?« Das Camp stand halb leer, die meisten Bewohner waren Dauermieter aus der Umgebung. Und rundherum war ja nichts als Wald und wieder Wald.

»Ich habe sie im Wald gesucht. Da lief sie doch immer herum.«

Sinnloser ging es ja wohl nicht. Ich schaute ihn an, wie er da in meinem Plastikstuhl saß, die Unterarme auf die Knie gestützt und den strubbeligen Kopf zwischen den Schultern, und dachte mir: Dann siehst du jetzt halt allein zu, wo du Salz herbekommst. Dann tat er mir doch ein wenig leid. »Mona hat mir erzählt, dass Sie zum Schreiben hier sind», bemerkte ich. »Sie haben wohl viel gearbeitet die letzten Tage?«

Er gab nur ein Brummen von sich und rieb sich die Schläfen.

»Sind Sie Romanautor?«, fragte ich, um ihn zum Reden zu bringen. Natürlich wusste ich sehr gut, dass er keine Romane schrieb.

»Nein, ich schreibe einen Fachartikel … für ein Buch über moderne Mythen und kollektive Hysterie. Kornkreise, Entführungen, Männer in Schwarz … all dieses Zeug, das immer weitergetragen wird.« Er machte eine schlaffe Handbewegung zu dem Zeitschriftenstapel, der auf meinem Tisch lag. Plötzlich stahl sich ein überraschend niedliches Lächeln in sein Gesicht, und er zitierte leise: »Es gibt viele verschiedene Arten von Dummheit, und die Gescheitheit ist nicht die beste davon …«

»Das ist aus dem Zauberberg«, sagte ich gelehrt.

»Ich weiß. Ich habe nur ein bisschen drin geblättert. Das Buch gehört eigentlich Mona. Ich lese keine Romane.« Er stockte, fuhr sich mit beiden Händen in die Haare und platzte heraus: »Sagen Sie, haben Sie das Tierheim im Wald gesehen?«

Ich hatte noch nie ein Tierheim im Wald gesehen. Er blieb in verzweifelter Haltung sitzen und raufte sich das Haar. »Es muss direkt an der Straße durch den Wald liegen. Ich habe es gesehen, es ist bestimmt da, ich habe es gesehen! Aber jetzt finde ich es nicht mehr. Ich bin schon dreimal losgelaufen, um es zu suchen.«

»Man baut doch kein Tierheim mitten im Wald.« Ich musste lachen. »Was suchen Sie denn nun eigentlich, das Tierheim oder Mona?«

»Ich bin sicher, dass es da ist. Gehen Sie mal den Waldweg lang, gerade dort hinein«, er zeigte auf den Weg, der hinter meiner Parzelle in die Buchenpflanzung hineinführte. »Sie können es gar nicht verfehlen, es gibt nur eine Richtung. Gehen Sie hin. Es würde mich interessieren, was Sie davon halten.«

»Wie soll ich es finden, wenn Sie es selbst nicht finden?«, fragte ich logisch. Darauf gab es keine Antwort. Nun, der Wald – ich mag Waldspaziergänge ganz gern. Wenn es überschaubare Wanderwege gibt mit anständiger Beschilderung. Aber dieser Wald war nicht mein Fall. Das hatte ich schon in der ersten Woche festgestellt. Zum Beispiel dieser Weg in die Buchen, der führte jeden Tag woanders hin. Mal kam nach fünfhundert Metern eine Fichtenschonung, mal ein Kastanienhain, ein andermal Tollkirschengesträuch. Man verlief sich sofort. Und mir leuchtete nicht ein, was ausgerechnet ein Tierheim im Wald mit Joachims Sorgen um Mona zu tun haben sollte. »Wir können ja zusammen hingehen, und Sie zeigen es mir«, schlug ich vor. Aber das wollte er nicht. Er wies es so aufgeregt von sich, als hätte ich ihm zugemutet, den ganzen Wald abzuwandern.

»Ich würde ja, aber ich habe wirklich keine Zeit, weiter danach zu suchen. Ich bin schon so mit dem Artikel in Rückstand. Ich kann mich gar nicht mehr konzentrieren wegen dieser dauernden Sorge um Mona.« Er redete unaufhörlich weiter. Nach einer Weile stand er auf und trat den Rückzug zur Hecke an. »Schauen Sie es sich an. Es ist ein hübscher Spaziergang, und es gibt massenhaft Hunde dort, sehr nette Hunde«, wiederholte er flehend. »Und die Inhaberin spricht Deutsch. Da kann gar nichts schiefgehen. Erzählen Sie mir nachher, was Sie herausgefunden haben.«

Rückwärtsgehend stieg er über die Ligustersträucher. Wenn ich mich an ihn erinnere, sehe ich immer dieses Bild vor mir: Wie er, mit dem Salzfass in der Hand, über die Hecke stieg – so ausgreifend, als hätte er Angst, sich an ein bisschen Liguster weh zu tun.

Danach haben wir nie wieder miteinander gesprochen. Ich sah ihn täglich zum Campladen zockeln und mit Plastiktüten in den Händen wiederkommen. Abends war Licht im Wohnwagen, der blaue Widerschein seines Notebooks. Wahrscheinlich schrieb er seinen Artikel zu Ende. Das Salzfass hat er mir nicht wiedergebracht.

Ein paar Mal fuhr er mit dem Auto weg, und irgendwann kam er nicht mehr zurück. Ich weiß nicht, ob er den Wohnwagen geräumt hat oder einfach verschwunden ist, so wie Mona. Zwei Wochen später musste ich selbst nach Hause.

Immerhin habe ich mir einen Hund mitgebracht aus diesem Campingurlaub. Das Tierheim war nämlich tatsächlich da. Kurz bevor ich abreisen musste, habe ich es aufgesucht. Eine zwergenhafte Frau mit grauem Haarschopf hat mich herumgeführt und mir die Tiere gezeigt. Es gab schöne Hunde dort, freundliche Hunde mit liebenswertem Wesen. Am Ende habe ich aber doch dann einen von den weniger freundlichen genommen; den einzigen, der offenbar nichts von mir wissen wollte. »Nehmen Sie es ihm nicht übel«, sagte die Zwergin lachend, »er meint es nicht so!« Der Hund tat mir leid. Ich habe eine großzügige Spende gezeichnet und durfte ihn mitnehmen. Er ist ein kleiner Köter mit sandfarbenem, strubbligem Fell; ich kann ihn baden und bürsten, soviel ich will, er sieht immer ungepflegt aus. Er mag auch meine Schokoladenkekse nicht, aber sonst wirkt er inzwischen ganz zufrieden.

Cora auf Reisen
Das Tierasyl
Das Zappelkaninchen
Der Meermann
Die See ist eine blaue Kathedrale
Erste Häutung (Romankapitel)
Fluchtpunkt
Goth und das Ungeheuer
Hummeln und Spinnen
Mann mit Hund
Netta tritt auf (Romankapitel)
Pusteblume - Hasensprung
Schafskrimi (Leseprobe)
Was das Kaninchen erzählt
Wie ich zweistimmig wurde
Wortgesang
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren