Fluchtpunkt

...

»Ich habe ein Geschenk für dich«, sagte Dora am Telefon, »heute beim Versand bestellt. Vielleicht kommt es morgen schon an.«

Was dann kam, war ein dicker Brief mit einer Besitzurkunde für ein Grundstück – ausgestellt von der Lunar Embassy in Kalifornien. Ein Grundstück auf dem Mond. Dem Brief war eine topographische Mondkarte beigelegt. Ein winziges Viereck war markiert: Sein Grundstück auf dem Mond.

Dora kam erst ein paar Tage später nach Hause. Am Abend gingen sie zusammen auf den Balkon, und Dora zeigte in den Nachthimmel. »Siehst du den dunklen Fleck links neben dem großen Schatten? Da muss es ungefähr sein. Wir könnten einen Bungalow bauen mit Garten und Mondzwiebeln ziehen. Vielleicht kommt der Mann im Mond zu Besuch …«

Er schaute sie von der Seite an. Nach acht Jahren Ehe war ihr Gesicht noch immer glatt und zart wie das eines jungen Mädchens. »Und wie war dein Besuch?«, fragte er. »Wie geht es deiner Mutter?«

Sie hob die Schultern. »Immer dasselbe. Sie sagt, dass sie sich freut, wenn ich da bin, aber dann kritisiert sie ständig an mir herum. Diesmal habe ich zu allem Unglück den Staubsauger kaputt gemacht.« Sie lachte kopfschüttelnd. »Mama hätte mich beinahe rausgeschmissen.«



Wenn er nach Hause kam, steckte er oft zunächst den falschen Schlüssel ins Schloss. Es waren nur drei Schlüssel am Ring, trotzdem kam ihm stets als erstes ein falscher in die Finger.

Den Mantel an den Haken, die Aktentasche auf einen Stuhl. Auf den Fensterbänken hatte Dora Blumentöpfe aufgestellt, dazwischen lagen Muscheln, bunte Steine und allerlei Krimskrams. Alles war blank poliert und glänzte. Er schaute hinaus und erkannte den blassen Dreiviertelmond am Himmel, obwohl es noch taghell war.

Seufzend nahm er seine Papiere aus der Aktentasche und breitete sie auf dem Tisch aus. Er griff nach dem Kugelschreiber und konzentrierte sich auf seinen Artikel über ein astronomisches Lehrmodell, der schnellstens fertig geschrieben werden musste.

»Überträgt man das Sonnensystem auf die Verhältnisse unseres Modells«, schrieb er, »so stellen wir uns die Sonne als Ball von 1,39 Meter Durchmesser vor ...«

Nicht jeder hatte einen Zweitwohnsitz auf dem Mond. Dora dachte schon längst nicht mehr daran; jetzt hatte sie begonnen, Socken für ihn zu stricken. Er hatte keine Lust, ihr einzugestehen, dass er Wollsocken hasste. Die Besitzurkunde hatte er sorgfältig bei seinen persönlichen Unterlagen abgeheftet. Manchmal bekam Dora Anfälle von Putzwut und warf wichtige Dinge weg. Deshalb hatte er den Aktenordner mit schwarzem Filzstift markiert. »Achtung! Dies alles wird noch GEBRAUCHT!«



Er war beim Merkur angelangt. »Nur 58 Meter Luftlinie von dem Sonnenmodell entfernt kreiselt der winzige Merkur in 88 Tagen um die Sonne ...« Ein Schlüssel drehte sich im Schloss – Dora fand immer sofort den richtigen – und einen Augenblick später rief ihre helle sanfte Stimme: »Bist du da? Ich habe etwas für dich!«

Wie immer. Er legte den Kugelschreiber hin. »Ich bin hier. Wie war dein Tag?«

Schwungvoll kam sie ins Zimmer und brachte einen Schwall frischer Luft mit. »Hier, sieh mal.« Noch in Mantel und Schal ließ sie zwei kleine Kugeln vor ihn auf den Tisch hinrollen. »Die hab ich aus dem neuen Laden, du weißt doch, dem mit den Salzsteinlampen im Schaufenster.«

»Und was ist das?«

»Es ist vulkanisches Gestein. Du musst in jede Hand eine Kugel nehmen und versuchen zu erfühlen, welche Kugel in welche Hand gehört. Es gibt immer eine linke und eine rechte Kugel, das kann man genau spüren, wenn man sich konzentriert. Versuch es mal.«

Er nahm die beiden Brocken auf und schloss die Hände zu Fäusten, während sie hastig anfügte: »Und, entschuldige, ich habe die Theaterkarten vergessen. War schon halb auf dem Heimweg, als es mir wieder einfiel. Aber die können wir ja auch morgen an der Abendkasse abholen, oder?«

»Sicher.« Das bedeutete, dass sie eine Dreiviertelstunde eher losfahren und an der Theaterkasse Schlange stehen mussten. Weil sie es verschusselt hatte, einen Umweg von fünf Minuten über das Kartenbüro zu machen. Er versuchte, sich auf die Kugeln zu konzentrieren, und verglich das Gefühl in der linken Hand mit dem in der rechten.

Dora warf einen Blick auf seinen Artikel. »Immer noch Astronomie? Möchtest du ein Stück Bienenstich? Ich habe welchen mitgebracht.« Sie verschwand in der Küche.

Er betastete die Gesteinsbrocken mit geschlossenen Augen. Sie fühlten sich völlig gleich an. »Du, hast du den Brief an die Redaktion in Kassel eingeworfen?«, rief er.

Stille. Er schlug die Augen auf. Da stand sie in der Küchentür und sah ihn erschrocken an. »Welchen Brief?«

»Den an die Redaktion. Mit dem Artikel über die Venus.« Er spürte, wie sein Rückgrat sich versteifte.

Sie hob die Hand an ihr Kinn. »O Gott, das habe ich vergessen. Tut mir Leid. Oh, das tut mir echt Leid.«

»Herrgott, Dora.« Seine Fäuste ballten sich fester. »Das war eine Terminsache!«

»Warum schickst du es nicht jetzt hin, per Mail?«

»Weil die keine Einsendungen per Mail wollen. Sie wollen Ausdrucke mit der ganz normalen Post. Und morgen ist Ablieferungstermin. Das ist kein Wochenblättchen, Dora, es ist die größte Astronomiezeitschrift in Europa! Es ist die dritte Folge meiner Artikelserie, du weißt doch, wie wichtig das ist!«

In ihre Augen traten Tränen. »Es tut mir furchtbar Leid, ich hab es einfach vergessen. Soll ich noch einmal losgehen?«

»Heute werden die Briefkästen nicht mehr geleert! Es ist gleich acht!«

»Willst du nicht doch ein Stück Bienenstich?«

Er wurde laut: »Ich will KEINEN Bienenstich!«

Dora zog sich mit gesenktem Kopf in die Küche zurück. Er saß reglos am Tisch, die Fäuste noch immer mit aller Kraft um die Zwillingssteine geballt. Mit einemmal knackte es, die Kugel ging zu Bruch. Die Außenschicht war dünn wie Eierschalen und feiner Sand rieselte heraus.

Entmutigt wischte er die Hand an der Hose ab.

Über dem Tisch baumelte ein Traumfänger und bewegte sich sachte hin und her. Er war aus Wolle auf einen Drahtring gewebt und mit Federn und Perlen geschmückt. Dora hatte ihn selbst gemacht.

Jetzt wirtschaftete sie in der Küche herum und räumte ihre Einkäufe in den Kühlschrank. Er schloss die Augen und stellte sich ihr Gesicht vor: Sie hatte dunkle Augen, eine runde Stirn wie ein Kind, und ihre Augenbrauen waren so weich wie Mottenflügel.

So eilig, wie er behauptet hatte, war der Brief gar nicht. Auf einen Tag kam es nicht an. Aber warum verschusselte sie immer alles?

»Ich passe nicht in diese Welt«, bemerkte sie manchmal mit verlegenem Lachen, »mein Kopf ist in den Wolken.« Sogar beim Kochen machte sie alberne Fehler, über die sie gemeinsam Witze machten: Halbrohe Kartoffeln galten als »medium« und was versalzen war, nannten sie einfach »bretonisch«.



Er hörte die Wohnungstür klappen. Wahrscheinlich ging sie nun doch noch zum Briefkasten – aus Angst, den Brief morgen wieder zu vergessen.

Leise öffnete er die Küchentür. Dora hatte auf dem Tisch einen Kuchen¬teller für ihn bereitgestellt, mit einem großen Stück Sahnekuchen darauf. Neben dem Teller warteten die Kuchengabel und eine blaue Papierserviette, die zu einer Blüte gefaltet war.

Gedankenverloren nahm er sie in die Hand und zog sie auseinander. Ein paar winzige Sterne aus Goldpapier rieselten über den Tisch. Auf der Serviette leuchtete ein Lippenstiftkuss.

»O Dora«, sagte er leise. »Dora, Dora, Dora.« Er legte die Serviette auf den Tisch und öffnete das Küchenfenster. Ein kühler Abendhauch wehte herein. Sein Blick suchte die beinahe volle Mondscheibe, den großen Schatten auf der Oberfläche, den dunklen Fleck links daneben. Minutenlang schaute er reglos hinauf. Dann hörte er ihren Schlüssel in der Wohnungstür. Er schloss das Fenster und nahm die Kuchengabel in die Hand.

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